Tuchel schwört die «unbeugsamen Bajuwaren» im Bernabéu ein
90 Minuten, Verlängerung, Elfmeterschießen: Es könnte eine lange Fußball-Nacht in Madrid werden. Kann Tuchel Real noch einmal ärgern und die Bayern zum Traumziel Wembley führen?
90 Minuten, Verlängerung, Elfmeterschießen: Es könnte eine lange Fußball-Nacht in Madrid werden. Kann Tuchel Real noch einmal ärgern und die Bayern zum Traumziel Wembley führen?
Thomas Tuchel versammelte die Bayern-Profis im modernisierten Estadio Santiago Bernabéu auf dem Rasen im Kreis und schwor sie energisch auf den Kampf ums Finale gegen Real Madrid ein.
An ein «Adiós Wembley» wollten weder der Trainer noch das Team um Torgarant Harry Kane bei der speziellen Halbfinal-Einstimmung in Spaniens Abendsonne denken. Tuchel packte die Münchner Stars emotional: «Jeder sollte an die Kindheit zurückdenken. Der Champions-League-Titel ist der größte Traum eines Fußballers. Und der letzte Schritt ist noch nicht erreicht», erzählte Kapitän Manuel Neuer.
«Wir befinden uns in einem Tunnel, da soll man so eine Ankunft auch mal genießen», sagte Tuchel zu seiner besonderen Aktion. Die Spieler hätten sich an ihre Kindheit erinnern sollen, als sie davon geträumt hätten, bei solchen großen Spielern dabei zu sein. Die Kernbotschaft für Mittwoch (21.00 Uhr/DAZN) laute: «Sie spielen das Halbfinale nicht, um das Halbfinale zu genießen. Sie spielen es, um ins Endspiel zu kommen. Wir spielen morgen um Wembley.»
Ein Scheitern beim letzten Schritt zum Traumziel London in einer bislang mauen Fußball-Saison mit vielen sportlichen Tiefschlägen und der von frustrierenden Absagen geprägten Trainersuche soll in der Real-Festung Bernabéu mit 80.000 heißblütigen Fans mit aller Macht abgewendet werden. «Der Eindruck vom Stadion ist imposant. Dieses Stadion hat etwas Besonderes. Es gibt kaum ein Stadion, wo es schöner ist, spielen zu dürfen», schwärmte Nationaltorhüter Neuer, der schon mehrmals in dem legendären Stadion spielte. «Es wird auf eine gute Tagesform ankommen und den Punch. Wir sind selbstbewusst. Wenn wir die Leistung auf den Platz bringen, sind wir ein Kandidat für das Finale», sagte Neuer.
Der bei der Fahndung nach dem Tuchel-Nachfolger bislang glücklose Sportvorstand Max Eberl hatte den Münchner Erfolgsplan so beschrieben. «Wir werden alles versuchen, 'Bestia Negra' zu sein und zu gewinnen. Wir wollen weiterkommen, egal wann, egal wie. Das Spiel ist die große Chance, eine Saison, die sehr kritisch gesehen wird, zu veredeln. Das wollen wir tun!»
Neuer, Müller und die guten Erinnerungen an 2012
Königsklassen-Veteran Thomas Müller, der ebenso wie Kapitän Neuer schon vor zwölf Jahren beim erfolgreichen Elfmeter-Krimi und Einzug ins «Finale dahoam» in Madrid gegen die Königlichen dabei war, formulierte das Münchner Rückspiel-Motto so: «Wenn du denkst, okay, das Stadion, das gehört Real Madrid, dann ist es besonders wichtig, dass die unbeugsamen Bajuwaren da auftauchen.» Und nach 2012 mal wieder triumphieren. Sportdirektor Christoph Freund erwartet «eine enge Kiste».
Für den 38-jährigen Neuer, der 2012 beim Halbfinalerfolg im Elfmeterschießen die Schüsse der Real-Stars Cristiano Ronaldo und Kaká parieren konnte, ehe Bastian Schweinsteiger als letzter Münchner Schütze traf, ist es ein Finale vor dem Finale - «und wir wollen dieses Spiel gewinnen». Es ist jedoch - heute wie damals - eine gigantische Aufgabe, die eine magische Bayern-Nacht erfordert, um am 1. Juni in Wembley wie 2013 gegen Borussia Dortmund oder wie 2020 in Lissabon gegen Paris Saint-Germain im insgesamt siebten Endspiel um den Henkelpott kämpfen zu dürfen. «Es ist immer noch ein Fifty-fifty-Spiel», sagte Tuchel entschlossen: «Wir haben 90 Minuten, 120 Minuten, vielleicht ein Elfmeterschießen.»
Tuchels beeindruckende Real-Bilanz
Die Zeiten, als die Bayern in Madrid als «Schwarze Bestie» gefürchtet wurden, liegen freilich länger zurück. Im vergangenen Jahrzehnt waren Reals Königliche um Mittelfeld-Genius Toni Kroos vielmehr selbst ein Bayern-Albtraum. Zur «Bestia Negra» taugt schon eher Thomas Tuchel, dessen Real-Bilanz als Trainer mit drei Siegen, fünf Remis und einer Niederlage top ist. Auf dem Weg zum Titelgewinn mit dem FC Chelsea vor drei Jahren hat es Tuchel schon mal geschafft, Real in einem Halbfinale zu bezwingen (1:1 und 2:0). Trotzdem sagte Tuchel: «Das Bernabéu ist einer der schwersten Orte, um zu gewinnen.»
Die Aufregung um die von prominenten Absagen (Alonso, Nagelsmann, Rangnick) und immer neuen Kandidaten wie nun Erik ten Hag von Manchester United geprägte Trainersuche dürfte durch den Halbfinal-Ausgang noch größer werden. Verrückt: Der nicht mehr gewollte Tuchel könnte womöglich im allerletzten Spiel als Bayern-Coach nach dem Henkelpott greifen. Eine Trennung vom Champions-League-Sieger wäre schon surreal.
De Ligt und Dier: Spezialauftrag gegen Vinícius Junior
Dafür aber muss erstmal im erneuerten Bernabéu alles passen. «Wir wissen, dass wir zu Hause gut sind», verkündete Real-Leader Kroos. Tuchel will an die mit 2:1 gewonnene zweite Hälfte des Hinspiels anknüpfen: «Das Ziel ist klar. Wir müssen gewinnen!»
Beim Abschlusstraining in München gab es positive Signale. Matthijs de Ligt gab nach Knieproblemen grünes Licht, wie Tuchel berichtete. Nachdem er beim 2:2 in der Allianz Arena gefehlt hatte, wird er im Abwehrzentrum an der Seite von Eric Dier verteidigen. Dier trainierte nach der beim 1:3 in Stuttgart erlittenen Platzwunde mit einem Pflaster an der Stirn. Das rustikale Abwehrduo soll Vinícius Junior stoppen, Reals zweifachen Hinspiel-Torschützen.
Auf dem Trainingsplatz herrschte gelöste Stimmung. Denn auch die Offensivkräfte Jamal Musiala (Knie-Probleme) und Leroy Sané (Schambein-Schmerzen) können mit Torgarant Kane stürmen. Der im Hinspiel ganz starke Konrad Laimer (Knöchel) will auch wieder auf die Zähne beißen. «Wir brauchen eine außergewöhnliche Leistung. Und wir müssen im Kopf voll da sein», mahnte der Österreicher. Schließlich sind Kroos, Vinícius und Co. seit Jahren die viel bestaunten Überlebenskünstler in der Champions League. «Man weiß bei Real, dass sie immer noch zuschlagen können, auch wenn sie nicht gefährlich wirken», sagte Laimer.
Von Klaus Bergmann und Christian Kunz, dpa
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