Trotz Drucksituation: Handballer glauben an EM-Halbfinale
Die große Rechnerei beginnt. Um das Halbfinale zu erreichen, sind Deutschlands Handballer auf Schützenhilfe angewiesen. Gegen Ungarn muss eine Baustelle geschlossen werden.
Die große Rechnerei beginnt. Um das Halbfinale zu erreichen, sind Deutschlands Handballer auf Schützenhilfe angewiesen. Gegen Ungarn muss eine Baustelle geschlossen werden.
Kai Häfner hatte seine Schimpftirade noch nicht beendet, da startete Timo Kastening schon seine Motivationsrede für das Nerven-Spiel der deutschen Handballer gegen Ungarn.
«Wir dürfen jetzt nicht auf dem Zimmer sitzen und herumheulen. Wer jetzt Trübsal bläst, kann auch direkt nach Hause fahren. Jetzt zeigt sich, wer mit Druck umgehen kann», sagte der Rechtsaußen vor dem Duell am Montag (20.30 Uhr/ZDF und Dyn). Kastening befand: «Solche Situationen machen einen Mann aus dir».
Nach dem 22:22 gegen die weiter ungeschlagenen Österreicher ist die DHB-Auswahl im Kampf um das EM-Halbfinale auf Schützenhilfe angewiesen - und braucht eine massive Steigerung im Angriffsspiel. «Komplette Katastrophe», sagte Häfner über die Vielzahl an Fehlwürfen und technischen Fehlern: «Wir haben heute alle Scheiße gemacht». Nur 22 von 54 Abschlüssen landeten im Tor der Österreicher.
Jetzt beginnt die Rechnerei
Zehn mögliche Konstellationen gibt es noch, wie dem DHB-Team der Vorstoß ins Halbfinale gelingen kann. Der einfachste Weg sieht so aus: Deutschland gewinnt die abschließenden Hauptrundenspiele gegen Ungarn am Montag sowie gegen Kroatien am Mittwoch und Österreich verliert gegen Olympiasieger Frankreich oder Island. «Es ist kein Weg für Verlierer, den müssen wir gehen. Dafür brauchen wir jeden Mann», forderte Spielmacher Juri Knorr.
Deutschland belegt in seiner Sechser-Gruppe Platz vier hinter Rekord-Weltmeister Frankreich, Ungarn und der ÖHB-Auswahl. «Jetzt ist das eingetreten, was wir vermeiden wollten», klagte Kastening: «Diese scheiß Rechnerei, was passiert, wenn...»
Wie brisant die Ausgangslage für Deutschlands Handballer ist, verdeutlichte auch die reduzierte Besetzung der Medienrunde am Sonntag. Anstelle mehrerer Spieler war diesmal lediglich Axel Kromer anwesend. Der DHB-Sportvorstand bat um Verständnis. «Die Nacharbeitung bei den Jungs war sehr lang gestern. Keiner hat so richtig ins Bett finden können, weil die Dinge nicht so gelaufen sind wie erhofft», sagte Kromer. Video-Analysen, taktische Besprechungen und ganz viel Regenration seien nun wichtiger für die Mannschaft.
Gislason: Mannschaft hat sich eingegraben
Deutschlands Auftrag hat sich auch durch den blamablen Auftritt gegen Österreich nicht geändert. «Wir wollen ins Halbfinale und werden unser Ziel nicht verschieben», sagte Kromer. Doch Ungarn verzeiht keinen Chancen-Wucher. «Wenn wir im Angriff so weiterspielen und unsere Chancen vergeben, werden wir weder gegen Ungarn noch gegen Kroatien gewinnen. Die Mannschaft hat sich immer wieder eingegraben. Wir waren an der Misere selbst schuld», kritisierte Bundestrainer Alfred Gislason.
Kapitän Johannes Golla sprach nach dem Abpfiff von einer «Riesen-Enttäuschung und einem gebrauchten Tag». Im Hintergrund jubelten beschwingte Österreicher über ihren nächsten EM-Coup. «Wir fliegen, und nichts bringt uns runter. Es ist wirklich unglaublich», sagte der überragende Torwart Constantin Möstl.
Dass sie das Spiel gegen die DHB-Auswahl nach einer zwischenzeitlichen Vier-Tore-Führung eigentlich hätten gewinnen müssen, dämpfte ihre Euphorie kaum. «Wir schreiben gerade Geschichte für den österreichischen Handball», sagte Rückraum-Ass Mykola Bilyk und sprach von einem Boom in der Heimat.
Ein guter Andi Wolff reicht nicht
Diesen Boom will auch die DHB-Auswahl bei der Heim-EM entfachen. «Bisher wurden wir von der Euphorie getragen. Ich hoffe, dass es jetzt keinen Riesen-Abbruch gibt und die Fans weiter an die Mannschaft glauben und die Mannschaft vor allem an sich selbst glaubt», sagte Kromer.
Gegen die Ungarn, die nach dem 29:26 über Kroatien mit breiter Brust ins Spiel gegen Deutschland gehen können, braucht die DHB-Auswahl wieder einen starken Andreas Wolff. Mit 14 Paraden war der Torhüter gegen Österreich erneut bester deutscher Spieler. «Ungarn hat super Kreisläufer und extreme Wurfkraft aus dem Rückraum. Deshalb müssen wir weiter gut in der Abwehr stehen, brauchen wieder einen Andi Wolff in Topform und müssen vorn besser abschließen», fasste Gislason zusammen.
Auch die Abwehr überzeugte gegen Österreich. Profit aus der guten Verteidigung konnte die DHB-Auswahl aber nicht schlagen. «Es ist sicherlich ein großes Manko, dass wir seit zwei Spielen auf unser Tempospiel verzichten müssen. Das sind die vermeintlich einfachen Tore», äußerte Kromer.
Woher kommt diese plötzliche Abschlussschwäche? «Wir wirken verunsichert vor dem gegnerischen Tor, und irgendwann ist es eine Kopfsache. Wir müssen den Kopf wieder hochbekommen», forderte Golla, um nach einer kurzen Pause nachzuschieben: «Kopf hochbekommen reicht nicht. Wir müssen einfach besser Handball spielen».
Von Jordan Raza und Eric Dobias, dpa
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