Die Bremer Ballermann-Musik in den Stadionkatakomben machte den Fußball-Kater von Thomas Müller nur noch schlimmer. «Um es platt zusagen: Es war einfach zu wenig Leben drin», fasste das Bayern-Urgestein den nächsten deprimierenden Titel-Tiefschlag zusammen. Kurzerhand beendete der Münchner Serienchampion danach seine Ausführungen zur 0:1-Blamage, als Werder-DJ Niklas Stark mit großer Musikbox und dem Mallorca-Song «Dicht im Flieger» grinsend die Allianz Arena verließ.
Der DFB-Pokal ist längst futsch. Die Meisterschaft haben die Münchner nach der ersten Heimniederlage der Saison auch nicht mehr in der eigenen Hand. Und die Champions League ist ein ohnehin unkalkulierbarer Tagesform-Wettbewerb. «Wenn du bei einem Club wie Bayern München unterschreibst, unterschreibst du für hundert Prozent. Das gilt für den Trainer und für die Spieler. Das haben wir nicht geliefert», konstatierte der angefressene Thomas Tuchel vor dem Nachholspiel am Mittwoch gegen den 1. FC Union Berlin.
Alonso-Leverkusener Topfavorit im Titelrennen
Keine drei Wochen vor dem Meisterschaftsgipfel ist Bayer Leverkusen dem Dauermeister auf sieben Punkte enteilt. Unter Trainer Xabi Alonso haben die als «Vizekusen» verspotteten Rheinländer eine imposante Entwicklung genommen: Der frühere Allesgewinner als Spieler hat der Werkself Widerstandsfähigkeit und Siegermentalität eingeimpft.
Spielerisch reißt Bayer wie schon oft in der Vergangenheit mit - nur unter dem immer wieder als Münchner Schattentrainer genannten Alonso ist das nun auch erfolgreich. Leverkusen ist Topfavorit auf Pokalsieg und Meisterschaft. Eine imposante Serie in Europa weckt auch dort Titelträume.
Und die Tuchel-Bayern? Die leisten sich immer mal wieder unerklärliche Aussetzer, die einer Spitzenmannschaft unwürdig sind. Pokal-K.o. beim Drittligisten 1. FC Saarbrücken, 1:5-Debakel in Frankfurt - und jetzt der Schock gegen abstiegsbedrohte Bremer. «Was heißt geschockt? Wir haben die ersten 70 Minuten einfach langweiligen Fußball gespielt», nörgelte Vorstandschef Jan-Christian Dreesen nach dem missratenen Rückrunden-Start.
Bayern «schlampig» und «belanglos»
Dass Tuchel stetig die Trainingsleistungen - wie auch nach dem Kurz-Trainingscamp an der Algarve - anpreist, erstaunt angesichts der am Sonntag sorg- und einfallslosen Wettkampf-Vorführung umso mehr. «Ich habe keine Lust mehr zu sagen, dass wir gut trainieren. Das glaubt ja auch keiner, wenn wir so spielen», merkte der 50-Jährige schmallippig an: «Nach 70 Minuten zu versuchen, den Schalter umzulegen, das geht gegen jedes Gesetz von Leistungsentwicklung und Leistungssport. So funktioniert es definitiv nicht.»
Statisch, ohne Hingabe, ohne Inspiration, ohne Tempo plätscherte das Angriffsspiel dahin. Tuchel fand den Auftritt über lange Zeit «belanglos» und «schlampig». Je mehr Erfolg Alonso mit Bayer hat, desto intensiver muss sich Tuchel Trainer-Vergleiche gefallen lassen.
Extrem genervt reagierte Letzterer, als er auf die Leverkusener Ecken-Erfolge beim 3:2 in Leipzig und die eigenen missglückten Varianten gegen Bremen angesprochen wurde. Es bringe nichts, über die Meisterschaft zu reden, stöhnte Tuchel: «Du musst ins Handeln kommen.»
Der Trainer ist gefordert
Tuchel ist mit personellen und taktischen Maßnahmen gefordert, damit die Münchner doch noch eine Aufholjagd auf Leverkusen starten. Mehr als ein Dreivierteljahr ist der frühere PSG- und Chelsea-Coach beim FC Bayern im Amt. Stilbildend war sein Wirken noch nicht. «An der Qualität der Mannschaft kann es nicht liegen. Zumal erst recht dann nicht, wenn wir vor wenigen Wochen noch vom Champions-League-Finale träumen und sprechen. Da wechselt sich die Einstellung wie das Wetter offensichtlich», kritisierte Dreesen deutlich.
Das merkten auch die Profis selbst nach der Niederlage durch einen Treffer des Ex-Münchners Mitchell Weiser kritisch an. «Man hat nicht das Gefühl, dass wir wissen, um was es geht», sagte Mittelfeldchef Joshua Kimmich.
Zu seinem eigenen Frust erlebte er die Schlussoffensive ausgewechselt von der Bank aus. Stattdessen durfte nach langer Wartezeit auf der Bank der kaum weniger gefrustete Leon Goretzka in der Mittelfeldzentrale ran.
Neuers Appell: Rolle annehmen und Vollgas zeigen
Mit einem Sieg gegen Union könnten die Münchner wenigstens wieder auf vier Zähler zu Leverkusen aufschließen. «Wir müssen den Ernst der Lage erkennen, dass wir nicht vorne stehen. Wir sind gerade der Jäger. Und das muss in die Köpfe», appellierte Kapitän Manuel Neuer. «Wir müssen schauen, dass wir das Spiel gegen Union gewinnen - und dann geht es Vollgas voraus nach vorne.»
Möglicherweise ist nach dem von Tottenham Hotspur verpflichteten Innenverteidiger Eric Dier bald ein weiterer Neuzugang dabei. Dreesen und Sportdirektor Christoph Freund stellten erneut den Zugang eines Rechtsverteidigers in Aussicht. Kieran Trippier von Newcastle United und Nordi Mukiele von Paris Saint-Germain gelten als Top-Kandidaten.
Von Christian Kunz und Klaus Bergmann, dpa
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