Julian Nagelmann nahm die Stufen auf das blaue Podium mit dem Hahn auf dem französischen Wappen mit einem großen Schritt. Druck? Angst? Bange machen? All diese negativen Sichtweisen auf den größtmöglichen Härtetest gegen den großen EM-Favoriten Frankreich wischte der Bundestrainer mit einem flammenden Appell für die Freude am Fußball beiseite.
«Wir haben dem Spiel eine Überschrift gegeben. Die ist: 'Wir kicken'», sagte Nagelsmann vor dem Abschlusstraining im da noch leeren Groupama Stadium in Lyon. Das Motto für die deutsche Nationalmannschaft beim Gastauftritt am Samstag (20.00 Uhr/ZDF) beim WM-Finalisten sei «simpel». Und das aus gutem Grund.
«Ich mag nicht, dieses 'Was passiert wenn?' Das bringt uns nichts. Da ist das Leben, das ist groß. Und da ist der Fußball, und der macht immer Spaß. Wenn es uns erdrückt, dann hören wir auf mit Fußball», referierte der 36-Jährige. «Es ist nicht Politik», es gehe nicht um Schicksal oder den Job von 30.000 Menschen. «Wir versuchen, zu gewinnen. Und wenn wir nicht gewinnen, versuchen wir am Dienstag wieder zu gewinnen», sagte Nagelsmann.
Die überraschende These: Nicht das Ergebnis gegen Frankreich sei für ihn maßgeblich. Erst an der Heim-EM im Sommer werde man sich letztlich messen lassen, versicherte der Bundestrainer. Aber Druck? Nein, darum dürfe es nicht gehen. Diese philosophisch angehauchten Einsichten trug Nagelsmann mit ganz viel Verve vor. Seinen Plan, die Nationalmannschaft mit einfachen, klaren Prinzipien aus der Krise zu führen, setzte er fort.
Den Wirbel um pinkfarbene Trikots, den historischen Ausrüsterwechsel von Adidas zu Nike («nicht meine Baustelle») und die generellen Fußball-Zweifel in der Heimat wirkten weit weg, als Nagelsmann mit Ilkay Gündogan zur letzten Übungseinheit schritt. Den Kapitän nannte er im Verbund mit den Jungstars Jamal Musiala und Florian Wirtz seine «drei Zauberer». Im Abschlusstraining gebe es auch keine Taktik mehr. Nur Spaß beim Sieben gegen Sieben.
Die Sturmgewalt Kylian Mbappé als größtmögliche Gefahr für seine radikalen Neustart-Pläne kann der Bundestrainer aber natürlich nicht ignorieren. Der PSG-Superstar saß kurz nach Nagelsmann auf dem gleichen Stuhl im Presseraum und versuchte sich in größtmöglicher Fußball-Diplomatie: «Das ist morgen ein guter Test. Die Deutschen gehören zu den besten der Welt, auch wenn die Ergebnisse nicht gut waren. Die Deutschen sind immer da», sagte der Turbo-Stürmer.
Feedback vom WM-Finalisten
Was Nagelsmann deutlich machte: Von seinem Kurs rückt er jetzt nicht mehr ab. «Wir hatten viel Zeit zu diskutieren, was ist vonnöten. Man bekommt nicht sofort ein Feedback, ob es funktioniert», beschrieb er die Debatten in seinem Trainerstab. In frühlingshaften Lyon wird er durch die Équipe Tricolore eine Rückmeldung von höchster Fußball-Instanz bekommen.
Eine Niederlage mit hohem Demütigungsfaktor gegen den WM-Zweiten und großen EM-Favoriten wie beim jüngsten 0:2 in Österreich würde Nagelsmanns Position kurz vor dem Heimturnier dramatisch schwächen. Die ganzen schönen Ideen wären als Wunschvorstellung entlarvt.
Offensichtlich wie selten ein Bundestrainer hat sich Nagelsmann auf eine Startelf festgelegt. Er steuert damit seinen durch und durch stringenten Führungskurs Richtung EM. «Es geht darum, den Spielern eine gewisse Sicherheit zu geben, eine Klarheit», sagte er. Doch klappt das auf Knopfdruck? Gegen eine Fußball-Großmacht? Nach den vielen Enttäuschungen.
In der kurzen für Medien einsehbaren Trainingszeit bildete er vor dem Abflug nach Lyon eindeutige Arbeitsgruppen. Die Erkenntnis: Marc-André ter Stegen vertritt im Tor den kurz vor dem Comeback wieder verletzten Manuel Neuer, der aber trotz seines Muskelfaserrisses die Nummer eins für die EM bleibt, wie Nagelsmann versicherte. «Die Entscheidung ändert sich nicht», sagte Nagelsmann in Lyon.
Vor ter Stegen verteidigen am Samstag in den neuen weißen und nicht den pinkfarbenen EM-Trikots Joshua Kimmich, Jonathan Tah, Antonio Rüdiger und der Stuttgarter Maximilian Mittelstädt, der als einziger der vier verbliebenen Neulinge gleich ran darf. Der Stuttgarter habe ihn überzeugt. «Frech» und dennoch «demütig», diese Kombination gefällt dem Bundestrainer.
Ein Worker als Nebenmann von Kroos
Rückkehrer Toni Kroos bekommt fast drei Jahre nach seinem DFB-Rücktritt in Robert Andrich einen mit hohem Anschlag arbeitenden Sechser an seine Seite. Gündogan spielt in einer Offensivraute mit den Zauberer-Kollegen Musiala und Wirtz und Sturmspitze Kai Havertz. Das klingt im Angriff eher nach Filigran-Fußball denn «Worker»-Mentalität, die Nagelsmann so sehr vermisste.
Wenn die Anti-Druck-Attitüde gegen Frankreich kein respektables Ergebnis liefert, wird natürlich infrage gestellt werden, warum der DFB-Chefcoach auf die Erfahrung von Mats Hummels, Niklas Süle und Leon Goretzka verzichtet. Auf der Ersatzbank ist der Leipziger David Raum mit 19 Länderspielen der erfahrenste Akteur hinter einer prominenten Ausnahme.
Die heißt Thomas Müller mit 126 Länderspielen seit 2010. «Wenn ich spiele, werde ich voll brennen. Und wenn ich nicht von Anfang an spiele, dann werde ich auch brennen», sagte der Bayern-Profi, der offenkundig im Sommer möglichst spät Urlaub machen will «Sports Illustrated». Sein ehemaliger Club-Trainer Nagelsmann wird diese Worte lieben.
Müller kennt den Frankreich-Schlüssel
Müller weiß zudem, wie man Frankreich schlägt. Beim 2:1 unter Rudi Völler als Interimscoach im September schoss er das wichtige 1:0. Beim bislang letzten Sieg in Frankreich im Februar 2013, auch ein 2:1, traf er ebenfalls. Es sind die kleinen statistischen Fakten, auf die sich deutsche Fußball-Hoffnungen derzeit berufen.
Die Franzosen können dagegen klotzen. Nur ein Spiel verloren sie seit der Niederlage im Elfmeterschießen im WM-Finale gegen Lionel Messis Argentinien kurz vor Weihnachten 2022 in Katar. Eben jenen für sie in der laufenden EM-Qualifikation minder wichtigen Test in Dortmund vor einem halben Jahr. Mbappé saß damals 90 Minuten auf der Bank. Diesmal hat Frankreichs Langzeit-Erfolgscoach Didier Deschamps, der genauso schlecht verlieren kann wie Nagelsmann, im EM-Countdown keinen Anlass mehr für Schonzeiten.
Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa
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