Eineinhalb Kilogramm haben George Russell seinen Formel-1-Überraschungssieg in Belgien gekostet und Rekordweltmeister Lewis Hamilton zum 105. Karriere-Triumph verholfen. Die obligatorische Prüfung nach dem Strategie-Thriller in Spa-Francorchamps ergab, dass Russells Wagen mit der Nummer 63 zu leicht war. Das Mindestgewicht eines Formel-1-Autos liegt bei 798 Kilogramm. Russells Wagen wog aber nur 796,5 Kilogramm. Die Rennkommissare disqualifizierten schließlich den jungen Engländer.
«Während der Anhörung bestätigte der Teamvertreter, dass die Messung korrekt ist und dass alle erforderlichen Verfahren korrekt durchgeführt wurden. Das Team hat auch eingeräumt, dass es keine mildernden Umstände gab und dass es sich um einen echten Fehler des Teams handelte», hieß es in der Begründung der Stewards, die vom Technischen Delegierten über den Vorfall informiert worden waren.
1,5 Kilogramm zu wenig
Was für ein Nachspiel! Damit entging Mercedes nach der eigentlich meisterhaften Vorstellung von Reifenflüsterer Russell auch der Doppelerfolg. Die Nachrücker im Klassement um Hamilton profitierten schließlich. «Wir müssen die Disqualifikation mit Fassung tragen», sagte Teamchef Toto Wolff nach dem Gewichtsurteil. «Wir haben ganz klar einen Fehler gemacht und müssen sicherstellen, dass wir daraus lernen.»
Formel-1-Weltmeister Max Verstappen konnte das packende Schauspiel an der Spitze nur aus der Entfernung verfolgen und verlängerte unfreiwillig seine Durststrecke. Der Red-Bull-Star verpasste trotz einer Aufholjagd nach einer Strafversetzung als neuer Vierter zum vierten Mal nacheinander den Erfolg. Verstappen konnte im letzten Grand Prix vor der Sommerpause aber seinen WM-Vorsprung auf McLaren-Mann Lando Norris auf 78 Punkte ausbauen, da dieser direkt hinter dem in Belgien geborenen Niederländer landete.
Bei untypischen sommerlichen Bedingungen in den Ardennen raste Russell mit einer risikobereiten Ein-Stopp-Strategie mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,5 Sekunden vor Hamilton über die Ziellinie, doch schlussendlich hatte sein Wagen weniger Ballast als die Rivalen zu tragen. Norris' Stallrivale Oscar Piastri, der vor einer Woche in Ungarn noch seinen Premierenerfolg gefeiert hatte, wurde neuer Zweiter vor Charles Leclerc im Ferrari.
Doch nicht der erste Mercedes-Doppelerfolg seit 2022
«Reifenflüsterer» hauchte Mercedes-Teamchef Wolff nach Russells vermeintlichem zweiten Saisonsieg und dem lange ersehnten ersten Doppelerfolg für die Silberpfeile seit Brasilien 2022 in den Boxenfunk. «Fantastisches Ergebnis. Diesen Sieg habe ich heute Morgen in unserer Strategiesitzung definitiv nicht vorausgesagt», sagte Russell, als er freudestrahlend seine Trophäe in die Höhe reckte und sich für wenige Stunden als Gewinner fühlen durfte. «Das Auto hat sich fantastisch angefühlt.»
Verstappen konnte sich nach Startplatz elf den Traum vom vierten Spa-Erfolg nacheinander nicht erfüllen. Sein vor dem Aus stehender Red-Bull-Teamkollege Sergio Perez startete zwar erstmals seit dem China-Rennen im April wieder aus der ersten Reihe, konnte am Ende mit Position sieben aber nicht für eine Dauerbeschäftigung werben. «Nicht ein Top-Rennen, aber ein gutes Rennen. Wir sind natürlich nicht mehr die Schnellsten», sagte Verstappen. Er habe «alles maximalisiert».
«Wir sind leicht enttäuscht, wir haben uns mehr erwartet», räumte Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko ein, ehe er den Grand-Prix-Sieger rühmte: «Das war unglaublich von Russell.» Für Nico Hülkenberg war an diesem Wochenende nichts drin. Der Haas-Routinier startete als 16. und beendete das 14. Saisonrennen als 18.
Bei Red Bull ist es aktuell «eher netflixartig»
Die einstige Dominanz von Red Bull ist weg. Dessen ist sich der frühere Rennstall von Sebastian Vettel bewusst. In der Qualifikation zeigte Verstappen aber seine Extraklasse. Er distanzierte Leclerc als ersten Verfolger deutlich (+0,595 Sekunden). Da Verstappen aber auf dem mit 7,004 Kilometer längsten Kurs im Kalender regelwidrig schon seinen fünften Motor des Jahres einsetzt, musste er zehn Plätze nach hinten. Leclerc wurde die 25. Pole seiner Karriere zugeschrieben.
«Wir waren das Vornewegfahren gewohnt, heute ist es anders», räumte Red-Bull-Motorsportberater Marko ein. Auch wegen der vielen Baustellen abseits des Asphalts, etwa Verstappens publikumswirksamem Dauerstänkern gegen sein eigenes Team zuletzt in Ungarn, meinte der Österreicher: «Heuer ist es eher netflixartig bei uns.»
Daran hat auch die Situation um Perez einen gehörigen Anteil. Der Mexikaner besitzt seit Anfang Juni einen Vertrag bis Ende 2025, zudem besteht die Option auf eine weitere Saison. Doch nach einem starken Auftakt in diesem Jahr hat Perez immer stärker nachgelassen. Dem 34-Jährigen droht das Aus in den Formel-1-Ferien.
Verstappens «Rennen zur Schadensbegrenzung»
«Das ist zu wenig», beschied Marko im TV-Sender Sky. «Wir setzen uns am Montagabend in England zusammen und analysieren.» Für den Marko zufolge «theoretischen Fall» der Freistellung stünden Red-Bull-Ersatzmann Liam Lawson (22) sowie Daniel Ricciardo (35) und Yuki Tsunoda (24) von Schwester-Team Racing Bulls bereit.
Perez musste nach einem beinharten Zweikampf Lewis Hamilton im Mercedes schon nach den ersten Metern passieren lassen. Verstappen lag zu Beginn der zweiten Runde als Achter bereits direkt hinter seinem WM-Verfolger Norris. Der McLaren-Mann war als Vierter beim Start mal wieder nicht optimal weggekommen und fuhr im weiten Bogen über die Fahrbahnmarkierung hinaus. Hamilton übernahm derweil die Führung von Leclerc.
Verstappen steckte in einem Dilemma. Der Niederländer wollte Druck machen, durfte aber zugleich seine Reifen nicht verschleißen. «Ich sehe es als ein Rennen zur Schadensbegrenzung», sagte Verstappen und zog seinen Boxenstopp vor, steckte anschließend als 14. aber erstmal im Verkehr fest.
Harte Strafe für Russell
Der 26-Jährige tastete sich jedoch weiter an die Top drei heran. Zur Halbzeit hatte Verstappen nur noch Russell im zweiten Mercedes, McLaren-Pilot Piastri, Leclerc und den Führenden Hamilton vor sich.
Leclerc eröffnete den Reigen der Spitzenfahrer, die sich bei einem zweiten Boxenstopp den nächsten Satz harter Reifen aufziehen ließen. Hamilton reagierte kurz danach. An der Spitze hielt sich aber sein Teamkollege Russell und düpierte schließlich die Konkurrenz. So sah es zumindest lange aus, ehe sein Dienstwagen auf die Waage musste.
Martin Moravec und Jens Marx, dpa
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