Der König kam mit Verspätung und er trug Badelatschen. Die Vorstellung, in 33 Tagen seine außergewöhnliche Karriere nach dem Gewinn der Champions League auch noch mit dem fehlenden EM-Sieg zu beschließen, nannte Toni Kroos selbst «fast zu kitschig». Einzuwenden hätte er gegen eine solche Titel-Seifenoper am 14. Juli im Berliner Olympiastadion aber nichts. «Ich würde es nehmen», sagte der 34-Jährige nach einem für ihn - wie er gestand - etwas zu langen und anstrengenden Training in Herzogenaurach.
Nach gut 30 Minuten Audienz im Teamquartier der Fußball-Nationalmannschaft war unerschütterlich klar: Kroos lebt und zelebriert seine Comeback-Rolle. Cool und mit dem Selbstverständnis eines Siegers. Deswegen hat ihn Julian Nagelsmann zum Heim-Turnier aus dem DFB-Ruhestand geholt. Deswegen ist er beim EM-Anpfiff am Freitag (21.00 Uhr/ZDF und Magenta TV) in München gegen Schottland die Fixgröße für den Bundestrainer.
«Natürlich bin ich hungrig. Das ging einher mit der Entscheidung herzukommen, weil ich Lust auf Erfolg habe. Wenn ich die Idee oder Fantasie nicht hätte, hätte ich es nicht gemacht», sagte Kroos. Das war der Hauch Real Madrid, dieses unerschütterliche Selbstvertrauen, das nur Siege kennt. Wie im Hause Kroos eben üblich.
Seine Kinder kennen nur Siege
Seine drei Kinder Leon, Amelie und Fin werden gegen Schottland im Stadion sein, mit einer für sie normalen Erwartungshaltung. «Sie haben jetzt noch nicht nach der Taktik gefragt, die ist ihnen ziemlich egal. Aber sie erwarten natürlich einen Sieg. Sie sind leider ein bisschen erfolgsverwöhnt, das heißt, sie haben in den letzten Jahren nicht viel von der Nationalmannschaft mitbekommen», scherzte Kroos.
Wie kleine Kinder sollen sich die Teamkollegen in den kommenden Wochen auf ihn verlassen können. Diese Aura des Unfehlbaren hat sich Kroos auf dem Platz erspielt. Sie soll abfärben, wenn es bei der DFB-Elf nicht funktioniert. «Wenn es ein Problem gibt, bin ich da. Wenn es Zweifel mit dem Ball gibt, gib ihn mir. Es ist alles gut», beschrieb Kroos seine Aufgabe und seine Fähigkeit. Er ist der Beruhiger im deutschen Spiels. Der Kein-Fehlpass-Toni.
Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Oder? «Das Spiel gegen Schottland wird noch nicht entscheidend sein, aber wichtig. Da müssen wir da sein», forderte der Weltmeister von 2014. So leicht werde es nämlich nicht, mahnte Kroos. Die Negativspiralen bei der WM 2018 und der letzten EM 2021 hat er selbst noch miterlebt. Und die Fortsetzung selbiger bei der WM 2022 in Katar nach seinem mittlerweile revidierten Rücktritt hat er genau verfolgt.
Warnung vor den Kontern
Konstanz ist für ihn ein Thema. Die Konteranfälligkeit müsse man gerade gegen die Schotten auf ein Minimum reduzieren. «Es ist nicht so, dass man direkt anfangen muss zu fliegen, das sehe ich nicht so. Dennoch weiß ich, welches Potenzial wir haben», sagte Kroos.
Nervosität gibt es für den Greifswalder nur abseits des Fußballplatzes. «Das ist privat», sagte er. Nagelsmann berichtete kürzlich in Blankenhain, dass sich Kroos auch als Kommunikator verändert habe. Keiner sitze abends länger mit den Kollegen am Tisch. Aufgeschlossen, zugewandt sei der Real-Star. Das klang nach einem Imagewandel im höheren Fußballer-Alter.
Antonio Rüdiger, Kollege in Madrid, berichtete, Kroos in früheren Jahren auch bei der Nationalmannschaft «falsch eingeschätzt» zu haben. «Ich habe ihn besser kennenlernen dürfen jetzt bei Real Madrid. Und ich muss sagen, er ist ein sehr feiner Kerl, Familienmensch und ein stiller Leader. Er ist jetzt keiner, der viel redet. Aber einer, der auf dem Platz immer vorangeht», sagte der deutsche Abwehrchef.
Den Druck genießen
Kroos kann auch gelassener sein. Ein Eigenbrötler zu sein, würde ihm niemand mehr als Makel auslegen, angesichts seiner Erfolge. Ganz wichtig sei es, mit dem speziellen Druck bei der Heim-EM vernünftig umzugehen, mahnte er an. «Ein Heimturnier ist noch mal spezieller. Wir haben eine große Verantwortung für die Stimmung im Land in den nächsten Wochen. Im Wissen dieses Drucks müssen wir versuchen, das Ganze auch zu genießen», sagte der 34-Jährige.
Kroos wird seine Profi-Karriere nach dem Turnier beenden, das ist fix. Maximal sieben Spiele könnte er noch bestreiten, wenn die deutsche Mannschaft ins Finale kommt. Für dieses Ziel hat er auch auf größere Real-Feierlichkeiten nach seinem historischen sechsten Gewinn der Königsklasse verzichtet. Im «Hinterkopf geparkt» seien diese Emotionen. Sie sollen nach der EM hervorgekramt werden, möglichst aufgefrischt mit neuen Jubel-Momenten. Kitschig, wie eine Seifenoper.
Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa
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