Englands Stürmerstar Harry Kane darf auch nach dem EM-Finale keinen Trophäe in den Himmel recken.
Federico Gambarini/dpa
Englands Stürmerstar Harry Kane darf auch nach dem EM-Finale keinen Trophäe in den Himmel recken.
Niederlage im EM-Finale

Kanes Titel-Trauma verlängert Englands Warten auf Erlösung

Football's still not coming home. England wartet weiter auf den zweiten Turniersieg nach 1966. Symbolisch für den scheinbaren Fluch steht der titellose Harry Kane. Und wie geht's mit dem Coach weiter?

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trottete Harry Kane am EM-Pokal vorbei und wagte es nicht, dem Objekt seiner Begierde auch nur einen verträumten Seitenblick zuzuwerfen. Das einzig Silberne, das der englische Kapitän an diesem traumatischen Abend in Berlin anfassen durfte, war die Silbermedaille um seinen Hals. Wieder einmal. 

Englands ungestillte Titel-Sehnsucht, die «58 years of hurt» (58 Jahre Schmerz) - all das war im Moment der Herzschmerz-Niederlage im EM-Finale gegen Spanien an Harry Kane abzulesen. Und es wurde auch an ihm festgemacht.

«Das ist eine verpasste Chance. Es ist nicht leicht, in diese Endspiele zu kommen. Wenn es kommt, muss man es sich nehmen - und das haben wir wieder nicht getan», sagte der Angreifer des FC Bayern München. «Es ist extrem schmerzhaft und wird noch sehr lange wehtun.» 

Auch nach etwas Schlaf hatte sich die Trauer nicht gelegt. Es sei «herzzerbrechend, dass wir nicht erreichen konnten, wofür wir so hart gearbeitet haben», schrieb der 30-Jährige beim Kurznachrichtendienst X. Doch Kane fand auch schon wieder kämpferische Worte: Man werde sich «wieder aufrappeln, den Staub abschütteln und bereit sein, im englischen Trikot erneut zu kämpfen».

Keine Siegerparade

Die Enttäuschung war auch deshalb so groß, weil sich Kane und Co. nach den vielen erfolgreich bekämpften Widerständen im Turnierverlauf tatsächlich reif für Englands nächsten großen Titel seit dem WM-Triumph 1966 wähnten. Doch statt der erhofften Erlösung gab es durch das verdiente 1:2 riesige Ernüchterung. 

Pläne der neuen Labour-Regierung für eine Siegesparade der Three Lions in der Hauptstadt London am Dienstag, von denen die «Times» berichtet hatte, konnten in der Schublade bleiben. Die Hoffnungen der Engländer auf einen vom fußballbegeisterten Premierminister Keir Starmer extra ausgerufenen Feiertag blieben unerfüllt. Der Fußball wird wieder nicht nach Hause kommen, die Prophezeiung im Song «Three Lions» («Football's Coming Home») klingt inzwischen fast wie Hohn.

Englands Fluch ist auch Kanes Fluch

Der Applaus der Hotel-Angestellten, die beim Verlassen des Teamquartiers am Montag in Berlin für die Vizeeuropameister Spalier standen, konnte Kane nicht trösten. Die gut gemeinte Aufforderung von König Charles III., «den Kopf hochzuhalten», eher auch nicht. Und schon gar nicht der Titel des besten EM-Torjägers, den er sich mit fünf anderen Dreifach-Torschützen teilt. Der Stürmerstar wollte in seiner Wahlheimat endlich den persönlichen Titelfluch und den seines Landes beenden - doch stattdessen hat er ihn nur verlängert.

Weil Kane die Three Lions schon im verlorenen EM-Endspiel vor drei Jahren im heimischen Wembley-Stadion gegen Italien angeführt und in seiner Karriere noch keinen Mannschaftstitel gewonnen hat, wird dessen Sieger-Gen ungeniert infrage gestellt. «Der Fluch von Harry Kane» (beIN Sports), «Harry Kanes qualvolle Suche» (Sun), «Harry Kane macht eine traurige Figur» (Guardian) - die englischen Medien nahmen wenig Rücksicht auf den Bayern-Profi. «The Guardian» stichelte gar: «Der Kapitän agierte bei seiner Auswechslung zielstrebiger als zu jedem anderen Zeitpunkt des Abends.»

In der Tat schleppte sich Kane eine Stunde nahezu wirkungslos über den Platz des Olympiastadions. Einen einzigen Ballkontakt hatte er im gegnerischen Strafraum bis zu seiner frühen Auswechslung gegen Ollie Watkins. Trainer Gareth Soutgate deutete hinterher ein Fitnessproblem beim Superstürmer an, der sich am Ende der auch bei den Bayern titellosen Premierensaison mit Rückenproblemen plagte. «Körperlich ist es eine harte Phase für Harry.» 

Klopp für Southgate?

Dass er Kane dennoch von Beginn an vertraute, wird Southgate im Nachgang von Medien und Experten teils vorgeworfen. Doch für seine Aufstellung und Taktik wollte sich der Trainer genauso wenig rechtfertigen, wie er einen Hinweis auf seine persönliche Zukunft geben wollte. «Ich muss mit den richtigen Menschen sprechen. Das ist nichts für jetzt», sagte Southgate. 

Die Tendenz geht dahin, dass nach acht Jahren, zwei EM-Finals und einem WM-Halbfinale ein Wechsel auf dem Trainerposten stattfinden wird. Auch wenn die Führungsspieler Kane («Wir lieben den Trainer») und Jude Bellingham («Ich habe nichts als Respekt für Gareth») abermals Partei für ihren Trainer ergriffen. 

Aber wer könnte das Milliardenensemble so einstellen, dass es sein enormes Potenzial auch spielerisch entfaltet und bei der WM in zwei Jahren womöglich für die Erlösung sorgt? Ex-Nationalspieler Gary Lineker bringt Jürgen Klopp ins Spiel. Der englische Verband solle «alles» dafür tun, den Ex-Coach des FC Liverpool aus dem selbstgewählten Sabbatical herauszuholen: «Er wird sich ein bisschen ausgeruht haben.»

Ruhe und Abstand braucht nun auch Kane. «Im Moment ist es nur eine riesige Enttäuschung», sagte er niedergeschlagen. So gerne hätte er den Henri-Delaunay-Pokal unter dem Jubel von Prinz William und dessen Sohn George in den Berliner Nachthimmel gestemmt - und damit alle Zweifel besiegt. So aber bleibt es bei dem Kuriosum: Der in Topform womöglich beste Mittelstürmer der Welt, der für England und auf Clubebene Tore am Fließband schießt, verhilft seinen Teams zu keinen Titeln. 

Jörg Soldwisch, Jan Mies und David Langenbein, dpa
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