Für Thomas Bachs IOC steht in der olympischen Dauerdebatte um Russlands Sportler die nächste heikle Entscheidung an. Dürfen die Athletinnen und Athleten aus dem Land von Kremlchef Wladimir Putin am 26. Juli bei der Eröffnungsfeier der Sommerspiele von Paris dabei sein oder werden sie vom geplanten Spektakel mit 160 Booten auf der Seine ausgesperrt? Diese Frage wollen die Spitzen des Internationalen Olympischen Komitees am Dienstag zu Beginn ihrer zweitägigen Beratungen in Lausanne beantworten.
Die Paralympics-Bosse haben bereits vorgelegt. Russen und Belarussen, die wegen des Angriffskriegs in der Ukraine ohnehin nur als neutrale Athleten teilnehmen dürfen, bleiben von den Zeremonien zur Eröffnung und am Schluss der Spiele für Behindertensportler ausgeschlossen. Für Olympia gibt es diese Beschlusslage bisher nicht. Kurz vor der Sitzung der IOC-Exekutive drängten die Nationalen Olympischen Komitees der baltischen Staaten jedoch auf ein entsprechendes Votum.
«Wir sind fest davon überzeugt, dass sie unter keinen Umständen an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 in Paris teilnehmen können», schrieben die Präsidenten Urmas Sõõrumaa (Estland), Janis Buks (Lettland) und Daina Gudzineviciute (Litauen) in einem an IOC-Chef Bach adressierten Brief.
Russland schließt Olympia-Boykott aus
Erst nach monatelanger Diskussion hatte der olympische Dachverband in einer umstrittenen Entscheidung Athleten aus Russland und Belarus den Weg zu den Paris-Spielen frei gemacht. Sie dürfen nicht unter eigener Flagge starten, ihre Hymnen werden nicht gespielt, nationale Symbole sind bei den Wettbewerben untersagt. Mannschaften dürfen gar nicht antreten.
Wegen dieser Bedingungen stand lange ein Olympia-Boykott Russlands im Raum, zumal das IOC auch das Nationale Olympische Komitee des Landes (ROC) suspendiert hat. Grund dafür ist, dass das ROC die vier annektierten ukrainischen Gebiete Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja aufgenommen hat. Diese Aktion sei ein «eklatanter Verstoß gegen die Olympische Charta», bekräftigte IOC-Präsident Bach jüngst. Der Internationale Sportgerichtshof Cas wies Russlands Einspruch gegen die Suspendierung zuletzt ab.
Ein Komplett-Verzicht auf den Start russischer Sportler in Paris kommt für Sportminister Oleg Matyzin aber trotz aller Wortgefechte der vergangenen Monate nicht infrage. «Meine Position ist: Wir sollten uns nicht abschotten, verschließen und diese Bewegung boykottieren», sagte Matyzin. «Wir sollten die Möglichkeit des Dialogs maximal aufrechterhalten und bei Wettkämpfen antreten», fügte der Spitzenpolitiker hinzu.
Kritiker fürchten russische Propaganda
Diese Töne wiederum nähren die Sorgen der Kritiker einer Olympia-Starterlaubnis für russische Athletinnen und Athleten. Es gebe in Russland keine neutralen Sportler, sagte der ukrainische Sportminister Matwij Bidny unlängst der Deutschen Presse-Agentur. «Sie werden für die russische Propaganda benutzt», warnte Bidny.
Große Zweifel gibt es weiterhin daran, wie das IOC sicherstellen will, dass die startberechtigten Sportler aus Russland wirklich weder der Armee noch den Sicherheitsorganen angehören und den Krieg in keiner Weise unterstützen. «Jeder, der von den russischen Armee-Sportclubs vorbereitet wird, wird nicht dabei sein», versicherte IOC-Vizepräsident John Coates. Das IOC kündigte im Anschluss an die Prüfprozesse der Weltverbände ein weiteres unabhängiges Verfahren an, Details sind aber weiter unklar.
«Im Moment ist es nicht transparent», sagte der ukrainische Sportminister Bidny. Auch der Verein Athleten Deutschland bemängelte die undurchsichtige Lage und will bereits Regelbrüche festgestellt haben.
Wohl nur kleine Zahl russischer Sportler
Das ukrainische Olympia-Komitee wies das IOC darauf hin, dass eine Reihe von Russen und Belarussen, die an den Qualifikationswettkämpfen teilnehmen durften, nicht die IOC-Bedingungen erfüllen würden. Man habe eine Datenbank erstellt mit Screenshots und Videos von 700 Sportlern aus Russland, die die russische Aggression gegenüber der Ukraine unterstützen würden, sagte Minister Bidny.
Dass laut IOC-Vize Coates womöglich nur eine 40-köpfige Delegation von Teilnehmern aus dem Land der früheren Sportmacht Russland in Paris dabei sein wird, ist da eher ein schwacher Trost. In Tokio waren 2021 trotz Doping-Sanktionen noch 335 Russen am Start. Im Brief der baltischen NOKs an das IOC aber heißt es: «Ein einziger Vorfall wäre genug, um die Olympischen Spiele in eine Plattform für die Unterstützung des Krieges zu verwandeln.»
Christian Hollmann, dpa
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