Feierbiest Tuchel und schöne deutsche Sommer-Träume
Totgesagte leben länger. Das gilt für den FC Bayern - und für seinen Trainer. Aber auch für den deutschen Fußball, dem plötzlich ein großes Wembley-Revival und eine tolle Heim-EM winkt.
Totgesagte leben länger. Das gilt für den FC Bayern - und für seinen Trainer. Aber auch für den deutschen Fußball, dem plötzlich ein großes Wembley-Revival und eine tolle Heim-EM winkt.
Ein Jubel-Foto aus der Bayern-Kabine zeigte Thomas Tuchel in der für ihn ungewöhnlichen Pose als Feierbiest mit geballten Fäusten und lauthals schreiend vor seinen ebenfalls überglücklichen Spielern. Versonnen lächelnd schritt der 50-Jährige nach seinem größten Sieg als Bayern-Coach beim 1:0 (0:0) gegen den FC Arsenal dann nach Mitternacht durch die Katakomben der Allianz Arena.
Nach dem im Februar vom Verein verkündeten Trennungsbeschluss zum Saisonende rückt plötzlich ein damals undenkbares Schlussbild in realistische Nähe: ein noch viel größerer Tuchel-Jubel mit dem Champions-League-Pokal am 1. Juni in Wembley - und das womöglich nach einem Final-Revival gegen Borussia Dortmund.
«Es ist ein riesengroßer Anreiz da. Wir werden alles dafür tun, in Wembley die Saison zu beenden», kündigte Tuchel an. Natürlich spürte er Genugtuung - und er kündigte persönliche Schwerstarbeit für die finalen Wochen und die nun anstehende Herkulesaufgabe gegen Real Madrid am 30. April daheim und am 8. Mai in Spanien an: «Ich habe vom ersten Tag an alles gegeben und werde bis zum letzten Tag alles geben.»
Im Halbfinale gegen Real, «den größten Verein der Welt»
Genauso denkt seine Mannschaft, mit der ihm eine Symbiose immer nur punktuell glückte. So wie in den zwei extrem engen Partien gegen Arsenal. Trotzdem sei man nun nicht Topfavorit gegen Reals Königsklassen-Spezialisten um Toni Kroos und Antonio Rüdiger.
«Das ist eines der härtesten Spiele, die du spielen kannst, Halbfinale gegen den größten Verein der Welt. Real Madrid hat es geschafft, bei Manchester City zu gewinnen. Das ist ein unglaubliches Ausrufezeichen», sagte Tuchel zum Weiterkommen der Königlichen von Ex-Bayern-Coach Carlo Ancelotti gegen den Titelverteidiger mit Startrainer Pep Guardiola.
In der Kabine verfolgten die Bayern-Profis das entscheidende Elfmeterschießen, wie Harry Kane berichtete. Es machte den Königsklassen-Mythos der Madrilenen noch einmal größer. «Real Madrid ist natürlich ein großer Club mit einer beeindruckenden Historie in der Champions League. Das wird ein schweres Halbfinale für uns», meinte Torjäger Kane.
Wembley und Heim-EM: Gibt's ein neues Sommermärchen?
Aber Totgesagte leben länger. Das gilt für den in der Bundesliga vom neuen Meister Bayer Leverkusen entthronten und weit abgehängten FC Bayern. Und für Tuchel. Und quasi über Nacht auch für den deutschen Fußball in seiner Gesamtheit.
Erst ein neues Wembley-Finale Bayern gegen Dortmund elf Jahre nach dem Münchner 2:1-Triumph und anschließend eine stimmungsvolle Heim-EM mit der von Bundestrainer Julian Nagelsmann bei den jüngsten Testspielsiegen gegen Frankreich und Holland revitalisierten Nationalelf? Gibt es 2024 tatsächlich ein neues deutsches Sommermärchen?
Bayerns Sportvorstand Max Eberl sprach «freudetrunken» von einem großen deutschen Fußball-Moment, gerade auch für die Bundesliga, die so oft im Schatten der englischen Premier League steht. «Es steht kein Engländer im Halbfinale, es stehen zwei Bundesligisten drin. Das ist großartig, ein Ausrufezeichen, das wir gesetzt haben. Jetzt wollen wir beide noch mehr», sagte Eberl, der den BVB kurzerhand einbezog. Die Borussia erlebt im Halbfinale ein Wiedersehen mit Gruppengegner Paris Saint-Germain.
Finale Bayern gegen Dortmund: «Würde ich nehmen»
«Dortmund und wir müssen unsere Aufgaben machen. Ich hätte nichts dagegen», sagte Bayern-Kapitän Manuel Neuer zur Final-Neuauflage in London. «Würde mir gefallen, würde ich nehmen», sagte auch Joshua Kimmich, der mit seinem Kopfballtor in der 64. Minute zum Münchner Matchwinner avancierte und als «Man of the Match» ausgezeichnet wurde.
Für Kimmich war dieser rauschende Fußball-Abend ähnlich wohltuend wie für Tuchel. «Es ist schon so, dass das Tor sehr, sehr gut tut. Ich musste mir im letzten Jahr sehr viel anhören und habe sehr, sehr wenig Rückendeckung bekommen», sagte Kimmich, der in München sogar für den Sommer bei nur noch einem Jahr Vertrag als Verkaufskandidat gehandelt wird.
«Zu meiner Person hat sich ja Hinz und Kunz geäußert», schilderte der 29-Jährige. Dagegen habe er nur «wenig pro Kimmich» vernommen. «Dementsprechend ist es ganz schön, wenn ich selber dafür sorgen kann, dass sich die Stimmung ändert», sagte Kimmich.
Tuchels Schachzug mit Guerreiro und Mazraoui
Sein erstes Königsklassen-Tor seit Oktober 2020 entschied ein Kräftemessen, das für Tuchel lange «ein Spiel auf dem Schachfeld» war. Vereinspräsident Herbert Hainer rühmte den Coach für eine «taktische Meisterleistung».
Tuchels Ideen gingen auf, gerade auch die aus der Personalnot geborene Neubesetzung der linken Seite mit den famosen Noussair Mazraoui und Raphaël Guerreiro. «Das ist alles immer nur ein Gefährt», sagte Tuchel bescheiden zu Taktik und Aufstellung: «Die Spieler fahren das Auto und füllen das mit Leben.»
Tuchel schwärmte von «einer fantastischen Team-Performance». Und dieses Bayern-Team könnte er nicht als erstes titelloses Starensemble seit 2012 übergeben, sondern womöglich als Champions-League-Sieger. Und zu dieser verrückten Münchner Saison könnte dann gehören, dass Tuchels Vorgänger auch sein Nachfolger ist: Julian Nagelsmann. Gespräche laufen, wobei auch der DFB um eine längere Zusammenarbeit mit dem 36-Jährigen buhlt.
Nagelsmann-Entscheidung naht
«Ich habe nie Namen kommentiert, aber nie etwas ausgeschlossen», sagte Sportvorstand Max Eberl zur Trainerfrage und Nagelsmann. Man werde nichts überstürzen und wolle doch «so schnell wie möglich Planungssicherheit».
Nagelsmanns Berater Volker Struth wurde deutlicher. Jeder frage ihn derzeit, ob Nagelsmann zum FC Bayern zurückkehre oder welche Pläne er habe, sagte Struth in «Spielmacher - der EM-Podcast von 360Media mit Sebastian Hellmann» und kündigte an: «Das entscheidet sich zeitnah. In den nächsten fünf, sechs, sieben Tagen.»
Von Klaus Bergmann, Christian Kunz und Manuel Schwarz, dpa
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