Blick auf das Haus, in dem der verstorbene Priester Edmund Dillinger wohnte, der wohl über Jahre hinweg Minderjährige missbraucht und diese Vorgänge selbst dokumentiert hat.
Oliver Dietze/dpa
Blick auf das Haus, in dem der verstorbene Priester Edmund Dillinger wohnte, der wohl über Jahre hinweg Minderjährige missbraucht und diese Vorgänge selbst dokumentiert hat.
Abschlussbericht

Wie die Kirche im Missbrauchsfall Dillinger weggeschaut hat

Ex-Top-Staatsanwälte haben zu den Missbrauchstaten des Priesters Edmund Dillinger einen Abschlussbericht vorgelegt. Sie sehen die katholische Kirche in der Mitverantwortung.

Er trat als Mann Gottes auf, war eitel und geltungssüchtig und suchte vor allem eines: Körperkontakt. Seine Hände berührten gerne die nackten Oberschenkel und andere Körperteile männlicher Jugendlicher, oft fotografierte er sie in aufreizenden Posen, seine Lippen waren kussbereit. So schildern der ehemalige Koblenzer Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer und der frühere Vize-Chef der Staatsanwaltschaft Trier, Ingo Hromada, den Ende 2022 im Alter von 87 Jahren gestorbenen katholischen Priester Edmund Dillinger aus Friedrichsthal im Saarland - einen Täter.

Auf 96 Seiten haben die beiden Top-Juristen in ihrem vorläufigen Abschlussbericht über die Causa Dillinger nicht nur die Untaten eines kirchlichen Missbrauchstäters beschrieben. Vor allem haben sie - im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Verantwortungsbereich des Bistums Trier (UAK) - eine detailreiche Geschichte der Doppelmoral, des Verschweigens und Vertuschens dokumentiert.

Bewusste Vertuschung

«Es ist kaum zu begreifen, dass eine Persönlichkeit wie Dillinger über Jahrzehnte im Dienst der Kirche verbleiben konnte - trotz allen Wissens über seine Übergriffigkeiten und Missbrauchstaten», teilte die UAK am Dienstag mit. «Die Tatenlosigkeit und das Wegschauen von kirchlichen Verantwortlichen - was nur als bewusste Vertuschung gewertet werden kann - diente zuvörderst dem Schutz des guten Namens der Kirche und des Bistums.»

Alle Hinweise auf die Taten Dillingers seien weitgehend ignoriert worden: «Es sollte nicht sein, was nicht sein durfte und keine der intern bekannten Taten durfte öffentlich werden», teilte die Kommission mit. Und noch mehr: Es dränge sich bis heute «beginnend bei der Schulaufsicht über die Strafverfolgungsbehörden bis hin zum Auswärtigen Amt der Eindruck des immer bewussten Ignorierens auf».

Der Fall Dillinger war nach dessen Tod öffentlich geworden, als der Neffe des Geistlichen in dessen Wohnung rund 4500 Fotos von spärlich bekleideten männlichen Jugendlichen fand.

Zahl der Betroffenen nicht abschätzbar

Brauer und Hromada gehen nach ihrer einjährigen Untersuchung davon aus, dass Dillinger 19 Personen «in verschiedenen Schweregraden sexuell missbraucht hat» - und zwar zwischen 1961 und 2018. Elf Opfer seien namentlich bekannt. «Sehr viele, nach ihrer Anzahl aber nicht annähernd zu beziffernde Personen», seien vom «sexuell motivierten Verhalten» des Priesters betroffen gewesen. Heißt: Anfassen, Fotografieren, Küssen.

Nach der Durchsicht von Ermittlungsakten von drei Staatsanwaltschaften, mehr als 50 Interviews und diversen anderen Ermittlungen kamen die beiden Juristen zu der Auffassung, dass «die Verantwortlichen im Bistum Trier insbesondere 1964 und 1970 unangemessen reagiert und Vorwürfe vertuscht haben».

In den Pfarreien, in denen Dillinger tätig gewesen sei, seien «Vorfälle totgeschwiegen» oder «offenen Geheimnissen» nicht nachgegangen worden. Es sei klar, dass Dillinger «das Gegenteil dessen vorlebte, was er in seinen Predigten, Vorträgen und Veröffentlichungen als ethisch, moralisch und Gott gewolltes vorbildliches Leben eines guten Christen und Menschen zeichnete», schreiben die einstigen Staatsanwälte.

Übergriffe auf Jugendliche von Anfang an

Schon bei seiner ersten Stelle als Kaplan 1961 in Saarbrücken sei er als «nicht sauber» aufgefallen, sei es zu sexuellen Übergriffen gekommen - doch habe dies niemand an das Bistum melden wollen. Dann in der Pfarrei Saarlouis fasste er 1964 mehrere Jungs an die nackten Schenkel. Das Bistum erhielt Kenntnis - passiert ist aber nichts. Bei einer Wallfahrt nach Rom 1970 kam es dann zu einem schweren sexuellen Missbrauch eines 15-Jährigen.

Infolgedessen sei Dillinger zwar 1970 als Religionslehrer in Hermeskeil (Kreis Trier-Saarburg) freigestellt worden, doch habe er dann in Köln zunächst studiert, als Religionslehrer in Leverkusen gearbeitet und 1979 dann erneut eine Stelle als Religionslehrer in Saarlouis bekommen. Dabei hätten der Missbrauch auf der Romfahrt und Berichte über Dillingers übergriffiges Verhalten wegen Wiederholungsgefahr bessere Kontrollmechanismen erfordert, heißt es im Bericht.

Später habe Dillinger «Narrenfreiheit» genossen, stellten die Ex-Staatsanwälte fest. Als Gründer und Vorsitzender der CV-Afrika-Hilfe von 1972 bis 2005 sei er oft in Afrika gewesen und habe die Möglichkeit gehabt, sich jungen Männern aus und in Afrika zu nähern. Auf gefundenen Fotos sind viele dunkelhäutige Opfer. Da es noch offene Fragen vor allem mit Blick auf weitere Opfer in afrikanischen Ländern gebe, ist die Tätigkeit der Sonderermittler laut Kommission um ein Jahr verlängert worden. Weitere Betroffene sollten sich melden.

Schon Anfang der 2000er Jahre habe man im Bistum über ein «Doppelleben» Dillingers gesprochen, doch erst 2012 leitete der Trierer Bischof Stephan Ackermann ein Verfahren gegen Dillinger ein. Dem Mann wurde dann der Umgang mit Kindern und Jugendlichen untersagt, er durfte keine Gottesdienste mehr halten.

Verärgerung und Enttäuschung bei Aufklärung

«Große Verärgerung» gebe es darüber, dass die saarländischen Ermittlungsbehörden fast alle Beweismittel vernichtet hätten, bevor man sie habe einsehen können. Vor allem von detaillierten Jahreskalendern Dillingers ab 1967 habe man sich wichtige Erkenntnisse für die Aufklärung versprochen, teilten die Autoren der Studie mit.

Man hoffe auf neue Erkenntnisse durch die noch offenen Recherchen in Afrika. Auf diesen Erkundigungen scheint aber kein Segen zu liegen. 2023 scheiterte bereits ein Vorstoß der beiden Ex-Staatsanwälte in Berlin: «Das Auswärtige Amt hat unsere Anfrage, ob eine Möglichkeit gesehen wird, unsere Recherchen zu unterstützen, trotz Erinnerung nicht einmal beantwortet.» Das sei sehr «enttäuschend».

Reaktion des Bistums Trier

Die Studie bringe «größere Klarheit, vor allem für die Betroffenen, aber auch für das Bistum in Bezug auf das Agieren und die Taten von Edmund Dillinger und die Fehler und Versäumnisse der Verantwortlichen des Bistums», teilte das Bistum mit. «Es wird offenkundig, dass ein Priester der Trierer Kirche Kinder und Jugendliche missbraucht hat, und dass dies auch möglich war, weil Verantwortliche früherer Zeiten es unterlassen haben, zu handeln oder unangemessen reagiert haben.» Die Ergebnisse zu dem Fall bestätigten, «wie notwendig es sei, immer wieder zu überprüfen, welche Hinweise sich aus den Aufarbeitungsprozessen für das künftige Handeln ergeben».

Von Birgit Reichert, dpa
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