Viele Verdachtsfälle auf sexualisierte Gewalt in Kirche
Die evangelische Kirche will die Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs vorantreiben. Der rheinische Präses äußert sich selbstkritisch: Die Kirche lerne zu langsam.
Die evangelische Kirche will die Aufarbeitung von Fällen sexuellen Missbrauchs vorantreiben. Der rheinische Präses äußert sich selbstkritisch: Die Kirche lerne zu langsam.
Bei der zentralen Meldestelle der Evangelischen Kirche im Rheinland sind von 2021 bis Mitte Dezember vergangenen Jahres 76 Meldungen zu Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt eingegangen. Zuvor seien seit 1946 auf landeskirchlicher Ebene 70 Verdachtsfälle bei Pfarrpersonen und landeskirchlichen Angestellten bekannt gewesen, sagte Vizepräses Christoph Pistorius am Donnerstag am Rande der Landessynode in Düsseldorf vor Journalisten. Beide Zahlen seien aber nicht zu addieren, da es eine Überschneidung in mindestens einem Drittel der Fälle gebe. Nur die 70 Fälle seien für die bundesweite Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie zur Verfügung gestellt worden, die am 25. Januar in Hannover vorgestellt werden soll. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte die unabhängige Studie Ende 2020 in Auftrag gegeben.
Seit 2004 seien in Zusammenhang mit Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung 28 Disziplinarverfahren bei der rheinischen Kirche eingeleitet worden, sagte Pistorius. Vier Verfahren gegen Kirchenbeamte, Lehrer und Pfarrpersonen liefen noch.
In elf Verfahren habe auch die Staatsanwaltschaft ermittelt. Davon seien sechs Verfahren eingestellt worden, zumeist weil sich kein hinreichender Tatverdacht ergeben habe. Ein Verfahren sei gegen Auflage eingestellt worden. Die Kirche habe aber trotz der Einstellung in drei Fällen selbstständig weiter ermittelt und in zwei Verfahren disziplinarrechtliche Maßnahmen ergriffen.
Präses Thorsten Latzel forderte eine kritische Untersuchung bei den evangelischen Kirchen in Deutschland, inwiefern ihre Strukturen sexualisierte Gewalt oder einen intransparenten Umgang mit Missbrauchsfällen beförderten. So gebe es zum Teil unklare Verantwortlichkeiten von ehrenamtlich und beruflich Mitarbeitenden. Persönliche Beziehungen und Arbeitsstrukturen überlagerten sich in Gemeinden. Die Aktenführung sei teils sehr unübersichtlich gewesen, wenn denn Fälle überhaupt vermerkt worden seien.
Selbstkritisch sagte Latzel, dass die Kirche «viele Lernschritte zu langsam vollzogen» habe. «Menschen auf allen Ebenen unserer Kirche waren oft noch geprägt von einem Geist, der dem Schutz des Ansehens der Kirche oder von Amtsträgern einen zu hohen Stellenwert einräumt, höher als dem Leid von Betroffenen», räumte Latzel ein.
Zuletzt hatte der Rücktritt der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus im November 2023 die Kirche erschüttert. Hintergrund waren in einem Zeitungsbericht geäußerte Vorwürfe, sie habe schon vor vielen Jahren vom Verdacht sexuell übergriffigen Verhaltens gegen einen damaligen Kirchenmitarbeiter im Kirchenkreis Siegen gewusst.
Mit rund 2,2 Millionen Mitgliedern ist die rheinische Kirche die zweitgrößte evangelische Landeskirche in Deutschland.
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