Nach dem Attentat von Solingen ruft der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema auf und warnt zugleich vor schnellen Rufen nach vermeintlichen Lösungen im Asyl- oder Strafrecht. Plakative Forderungen würden nicht der Aufgabe des Staates gerecht, die Bürger zu schützen, sagte der FDP-Politiker der Deutschen Presse-Agentur in Mainz. «Es gibt nicht das Allheilmittel, man muss an vielen Schräubchen drehen.»
Eine bloße Verschärfung des Waffenrechts für Messer verhindere vermutlich Taten wie in Solingen nicht. Die Justizminister hätten vor einiger Zeit ein Gutachten in Auftrag gegeben, das sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der Messerkriminalität auseinandersetzen soll. Hier sollten zunächst die Ergebnisse abgewartet werden, betonte Mertin.
Mertin: «Es ist verdammt schwer, jemanden abzuschieben»
Mit Blick auf den für Solingen tatverdächtigen Syrer, dessen Überführung nach Bulgarien 2023 scheiterte, sagte der Minister, es helfe nichts, wenn politische Ebenen nun gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigten. «Es ist verdammt schwer, jemanden abzuschieben.» Es müsse darum gehen, Erschwernisse abzubauen – auf europäischer Ebene, aber gegebenenfalls eben auch hierzulande.
Im nordrhein-westfälischen Solingen waren am vergangenen Freitagabend bei einem Stadtfest drei Menschen mit einem Messer getötet worden. Acht Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Mutmaßlicher Täter ist ein 26-jähriger Syrer, der Ende 2022 über Bulgarien nach Deutschland gekommen war. Er sollte nach den EU-Asylregeln nach Bulgarien überstellt werden, war an dem dafür vorgesehenen Tag im Juni 2023 aber nicht da.
Nach der Tat rückte der Umgang mit Menschen ohne Bleibeperspektive in den Fokus. Der rheinland-pfälzische Fraktionschef Gordon Schnieder forderte, Asylbewerber und Geflüchtete ohne Bleibeperspektive gar nicht erst auf Kommunen zu verteilen. Auch müssten ausreisepflichtige Straftäter in zeitlich unbegrenzte Abschiebehaft. AfD-Fraktionschef Jan Bollinger verlangte eine «strukturelle Abschiebeoffensive».
Flüchtlingsrat warnt vor Folgen für Integration
Der Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz zeigte sich verwundert, dass nach Taten wie in Solingen im großen Stil Forderungen laut würden, deren Umsetzung gegen geltendes Recht verstießen. Abgelehnte Asylbewerber seien bereits jetzt verpflichtet, bis zu 18 Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben. Das habe verheerende Folgen für die Integration. Viele der Menschen seien aktiv auf der Suche nach Arbeit, Deutschkursen und Integrationsangeboten. All das lasse sich aus der Kommune heraus deutlich besser regeln.
Doch wie viele Abschiebungen in Rheinland-Pfalz scheitern eigentlich? Laut Integrationsministerium waren es im ersten Halbjahr dieses Jahres genau 381: 290 Mal seien die Menschen nicht angetroffen worden, bei 17 Personen habe Widerstand zum Scheitern geführt, 74 Menschen konnten aus anderen Gründen nicht abgeschoben werden. Dem standen von Januar bis Juni dieses Jahres 671 Ausreisen (2023: 1.178) gegenüber, darunter 395 Abschiebungen oder Überstellungen sowie 276 freiwillige Ausreisen.
Ausreisepflichtig waren zum 31. Juli 2024 in Rheinland-Pfalz 8.619 Menschen. Davon hatten 6.564 eine Duldung, sie können aus bestimmten Gründen nicht abgeschoben werden - etwa weil sie keine Ausweisdokumente haben oder krank sind. Eine Duldung ist immer befristet.
Europäische Verordnung setzt enge Grenzen
Grundlage für Überstellungen innerhalb der EU ist die Dublin-III-Verordnung - sie sieht vor, dass Asylbewerber in das Land gebracht werden, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Es sei bundesweit aus der Praxis bekannt, dass Dublin-Überstellungen nicht in allen Fällen durchgeführt werden könnten, heißt es aus dem Integrationsministerium. Ministerin Katharina Binz (Grüne) nannte das System im SWR überholungsbedürftig. Überstellungen scheitern dem Ministerium zufolge auch, weil sich Betroffene weigerten, ein Flugzeug zu besteigen. Dublin-Überstellungen erfolgen häufig mit Linienflügen.
Bei einer Weigerung werde, sofern möglich, eine erneute Überstellung geplant. In der Realität lässt sich das aber nicht schnell machen - es braucht einen neuen Flug, eine Begleitung sowie eine Übergabe in dem anderen Land. Es gilt auch als offenes Geheimnis, dass innerhalb Europas längst nicht alle Staaten im Sinne der Dublin-Regeln kooperieren, also beispielsweise auf ein Überstellungsersuchen aus Deutschland gar nicht reagieren.
Justizminister Mertin riet zu einem genauen Blick auf die Gründe für das Scheitern von Überstellungen. Warum sei ein erneuter Versuch wenige Tage später so schwierig, warum mangele es manchmal an Sitzplätzen in Fliegern? Zu hinterfragen sei auch, ob ein Mensch, der bei einem angekündigten Termin für eine Rückführung weg sei, wirklich nur als nicht anwesend gelte oder ob er dann nicht eigentlich flüchtig sei. «Da kann man nachschärfen.» Das könnte erleichtern, die Frist für eine Überstellung zu verlängern. Die liegt bei sechs Monaten, kann unter bestimmten Umständen aber auf bis zu 18 Monate ausgeweitet werden.
Blick auf das Jahr 2026
Ein Blick auf den europäischen Haftbefehl könne ebenfalls hilfreich sein, sagte Mertin. Dieser könne allerdings nur zum Zweck der Strafverfolgung erlassen werden. Man müsse daher prüfen, inwieweit entsprechende Mittel, die den Behörden im Rahmen von Abschiebungen und Überstellungen zur Verfügung stehen, ausreichen und praktikabel sind.
Bei der Bewältigung praktischer Probleme bekommen Kommunen in Rheinland-Pfalz Unterstützung von der Zentralstelle für Rückführungsfragen, die das Land finanziert. Künftig soll das auch mit der Nutzung einer von Frontex betriebenen Plattform zur Linienflugbuchung geschehen. Eine rechtliche Verbesserung erhofft sich das Integrationsministerium, wenn Mitte 2026 die Asyl- und Migrationsmangementverordnung die Dublin-III-Regeln ablösen wird. Dann werde eine Verlängerung der Frist für Überstellungen in mehr Fällen möglich und eine Haft bei Menschen erleichtert, die sich dem Verfahren widersetzten oder entzögen.
Von Christian Schultz, dpa
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