Eine christliche Kirche im Morgengrauen.
Bernd Wüstneck/dpa
Eine christliche Kirche im Morgengrauen.
Gesellschaft

Evangelische Kirche will Missbrauchsopfern Recht verschaffen

Erstmals beleuchtet eine umfassende Studie sexualisierte Gewalt bei der Evangelischen Kirche. Die Zahlen sind deutlich.

Der Präsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Volker Jung, will nach der Vorstellung einer Studie zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch in der evangelischen Kirche Betroffenen Recht verschaffen. Die Studie helfe, Risiken in kirchlichen Strukturen zu erkennen und weiter präventiv zu arbeiten, sagte Jung am Donnerstag in Darmstadt. «Wir werden alles daransetzen, Verdachtsfällen nachzugehen und Fälle aufzuarbeiten.» Die Studie erfasse Verdachtsfälle und bestätigte Fälle im Zeitraum von 1945 bis 2020. In der EKHN sind für diesen Zeitraum 45 Fälle bekannt.

Der Forschungsverbund «ForuM - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland» veröffentlichte am Donnerstag in Hannover die Ergebnisse der ersten unabhängigen, wissenschaftlichen Studie. Demnach sind in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1259 Beschuldigte dokumentiert. Die Untersuchung unabhängiger Wissenschaftler spricht von der «Spitze des Eisbergs».

Die EKD hatte Ende 2020 den Start der Studie im Bereich der EKD und der Diakonie bekanntgegeben. Das Projekt eines Forschungsverbundes wurde von der EKD und den Landeskirchen mit rund 3,6 Millionen Euro unterstützt. Als Dachorganisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit 19,2 Millionen evangelische Christinnen und Christen. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau erstreckt sich zu zwei Dritteln auf das südwestliche Hessen, ein Drittel liegt im östlichen Rheinland-Pfalz.

Nach Angaben der EKHN wird bereits jetzt Menschen, die sich wegen sexualisierter Gewalt melden, unbürokratisch geholfen und in Absprache mit ihnen Anzeige erstattet. Zudem gebe es verpflichtende Schutzkonzepte in kirchlichen Einrichtungen. Es gebe auch eine Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt und eine Anerkennungskommission.

Die Evangelische Kirche der Pfalz hat sich nach eigenen Angaben mit 49 Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt seit 1947 in der Landeskirche und ihrer Diakonie beschäftigt. Davon hätten sich 22 Fälle bestätigt, teilte die Kirche in Speyer mit.

In der Landeskirche, die neben der Pfalz auch Teile des Saarlands umfasst, bezogen sich neun Fälle auf Erzieherinnen oder Erzieher oder pädagogisches Personal und sieben Fälle auf Pfarrer. Der Rest habe sich etwa auf Kirchendiener oder ehrenamtliche Mitarbeitende bezogen. Darin abgebildet sei «die ganze Bandbreite» von übergriffigem oder distanzlosem Verhalten bis zur Straftat.

«In 19 Fällen war ein Straftatbestand erfüllt», erklärte die Landeskirche. Urteile habe es in sechs Fällen gegeben. Nicht alle Fälle führten zu einem Urteil, weil Täter oder Täterin unbekannt oder gestorben oder der Fall verjährt war. In den vier übrigen Fällen unter Pfarrern habe die Gesetzgebung kein Urteil ermöglicht. «Auch wenn die uns bekannten Fälle nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten, so wurden dennoch disziplinarrechtliche, dienstrechtliche oder arbeitsrechtliche Maßnahmen eingeleitet.» Drei Fälle seien noch nicht abgeschlossen.

An den ForuM-Forschungsverbund, der die bundesweite Studie erstellt, habe die Evangelische Kirche der Pfalz 27 Fälle gemeldet - darunter auch Verdachtsfälle, die sich nicht bestätigt hätten. «Diese Zahl unterscheidet sich von der Gesamtzahl aller Verdachtsfälle und der Zahl aller bestätigten Fälle, weil die ForuM-Studie nur bestimmte Fallkonstruktionen in ihrer Untersuchung berücksichtigt hat.» Zudem seien die Verdachtsfälle nicht aufgeführt, die nach dem Stichtag der Studie - dem 31. Dezember 2020 - bekannt geworden seien.

Bei der zentralen Meldestelle der Evangelischen Kirche im Rheinland sind von 2021 bis Mitte Dezember vergangenen Jahres 76 Meldungen zu Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt eingegangen. Zuvor seien seit 1946 auf landeskirchlicher Ebene 70 Verdachtsfälle bei Pfarrpersonen und landeskirchlichen Angestellten bekannt gewesen, hatte Vizepräses Christoph Pistorius vor wenigen Tagen am Rande der Landessynode mitgeteilt.

Beide Zahlen seien aber nicht zu addieren, da es eine Überschneidung in mindestens einem Drittel der Fälle gebe. Nur die 70 Fälle seien für die bundesweite Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie zur Verfügung gestellt worden.

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