Bei den Tarifverhandlungen für die deutsche Chemie-Industrie haben IG BCE und Arbeitgeber einen zusätzlichen freien Tag nur für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart. Erstmals wurden damit neben den allgemeinen Gehaltssteigerungen um 6,85 Prozent exklusive Vorteile für Gewerkschafter in einem großen Flächentarifvertrag festgeschrieben. Sie müssen dem Arbeitgeber ihre Mitgliedschaft aber anzeigen und erhalten bei Mitgliedsjubiläen noch zusätzlich einen zweiten Tag frei.
Ziel der Vereinbarung sei die Steigerung der Tarifbindung, teilten beide Seiten am Donnerstag mit. Streng genommen gelten Tarifabschlüsse generell ausschließlich für Gewerkschaftsmitglieder. Die Arbeitgeber wenden sie aber meist für alle Beschäftigten an, was gelegentlich zu Ärger über «Trittbrettfahrer» geführt hat, die Vorteile genießen, ohne Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaften zu zahlen. Diese betragen bei der IG BCE rund ein Prozent des durchschnittlichen monatlichen Brutto-Einkommens.
Beim Mitgliederbonus habe man am Ende eine einfache Lösung ausgehandelt, deren Vorteil sich für die Menschen sofort erschließe und der die Betriebe nicht überfordere, sagte der IGBCE-Verhandlungsführer Oliver Heinrich. «Damit schlagen wir ein neues Kapitel in der Tarifpolitik auf.» Er äußerte die Hoffnung, dass in den Unternehmen nun nicht nach Sonderlösungen gesucht werde. «Wir trauen uns», sagte IG BCE-Chef Michael Vassiliades über das Verhältnis zu den Arbeitgebern. Nach seinen Angaben sind etwa 35 Prozent der 585 000 Tarifbeschäftigten Mitglied in der Gewerkschaft und haben nun Anspruch auf den Bonus-Tag. Er hoffe, dass dieser Anteil mit der neuen Regelung weiter steige.
Auch in den laufenden Verhandlungen hatten die Arbeitgeber betont, die Belegschaften nicht spalten zu wollen. «Für uns ist wichtig, dass wir das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘ nicht antasten», sagte BAVC-Verhandlungsführer Matthias Bürk. Der Bonus sei ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung und solle das ehrenamtliche Engagement der Gewerkschafter in deren Freizeit belohnen.
Die Verhandlungen, bei denen die Arbeitgeber erst in der dritten bundesweiten Runde ein Angebot vorgelegt haben, standen unter Zeitdruck. Die Friedenspflicht wäre zum 30. Juni ausgelaufen. Danach wären Warnstreiks möglich gewesen. So blieb es bei Protestaktionen außerhalb der Arbeitszeit an mehreren großen Chemiestandorten mit tausenden Teilnehmern. Die Parteien schrieben auch ihre zum 30. Juni gekündigte Schlichtungsvereinbarung fort, die weiterhin ohne externe Schlichter auskommt.
Die gewerkschaftliche Forderung nach sieben Prozent mehr Geld wurde mit 6,85 Prozent in zwei Stufen annähernd erfüllt, dafür aber auf eine Laufzeit von 20 Monaten gestreckt. Die erste Stufe von 2 Prozent greift bereits zum 1. September, während der zweite Schritt zum 1. April 2025 in Kraft tritt. Dieser kann in einzelnen Betrieben aus wirtschaftlichen Gründen um bis zu drei Monate nach hinten verschoben werden.
Die Arbeitgeber hatten in der Verhandlung die doppelte Krisensituation der Branche beschrieben und einen dazu passenden Abschluss verlangt. Die lahmende Konjunktur mit schwacher Nachfrage und hohem Importdruck treffe auf strukturelle Nachteile wie teurer Energie, hohen Arbeitskosten und ausufernder Bürokratie.
Zumindest im wichtigen Teilbereich Pharma stehen die Zeichen aber wieder auf Wachstum. Vor allem Bestellungen aus Nordamerika und Europa haben den Umsatz in den ersten vier Monaten um knapp 5 Prozent wachsen lassen, wie der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vor wenigen Tagen berichtete. Damit konnte auch das weiterhin schwache Geschäft im Inland ausgeglichen werden. Produktion und Preise zogen leicht an. Die weiteren Aussichten wurden als stabil bis positiv bewertet.
Von Christian Ebner, dpa
© dpa-infocom, dpa:240627-99-553531/4
Copyright 2024, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten