In einer Aprilnacht vor zehn Jahren holten bärtige Männer in Lumpen und Flipflops 276 Mädchen aus den Schlafsälen ihres Internats in Chibok im Nordosten von Nigeria. Die Bewaffneten zwangen die Teenager auf Lastwagen und verschleppten sie tief in ein riesiges Waldgebiet in der Savanne des westafrikanischen Landes. «Wir wurden geschlagen, angeschrien – es gab nichts, was sie uns nicht angetan hätten», sagt Glory Mainta, die an jenem 14. April entführt wurde. Erst zwei Jahre später tauchte die erste ihrer Kameradinnen wieder auf. Sie irrte mit einem Säugling und einem islamistischen Terroristen, den sie zu heiraten genötigt worden war, unterernährt durch den Wald.
Ein Jahrzehnt später fehlt nicht nur von mindestens 82 der Chibok-Mädchen weiter jede Spur. Massenentführungen sind Alltag geworden. «Es sind nicht nur die Schulen. Niemand ist heute in Nigeria sicher», sagt Aktivistin Fatimah Abba Kaka von der Bewegung «Bring Back Our Girls», die für die Rückkehr der Chibok-Mädchen kämpft, der Deutschen Presse-Agentur.
Die Massenentführung der «Chibok Girls» durch die islamistische Terrormiliz Boko Haram war 2014 weltweit ein Top-Thema in den sozialen Medien. Unter dem Hashtag «#BringBackOurGirls» - Bringt unsere Mädchen zurück – twitterten Prominente wie US-First-Lady Michelle Obama, Papst Franziskus oder Kim Kardashian. Die USA schickten militärische Unterstützung, doch Rettungsversuche scheiterten. 103 Mädchen wurden 2017 und 2018 schließlich freigekauft - Medienrecherchen zufolge für 3 Millionen Euro Lösegeld und den Austausch von fünf Boko-Haram-Führern. Einige weitere entkamen, andere wurden getötet.
Tausende Opfer von Massenentführungen
Was 2014 noch wie eine tragische Eskalation wirkte, ist zu einem wiederkehrenden nationalen Notstand geworden. Im Schnitt gab es in diesem Jahr fast jeden Tag eine größere Entführung von mehr als fünf Menschen, bei denen insgesamt 1867 Menschen verschleppt wurden, wie die Sicherheitsberatungsfirma SBM vorrechnet. Mehr als 15.000 Menschen seien in den vergangenen fünf Jahren Opfer von Massenentführungen geworden, der Großteil allein binnen der letzten zwei Jahre. Erst Anfang März etwa wurden erneut Dutzende Schulkinder entführt ebenso wie mehr als 200 Frauen und Kinder aus einem Flüchtlingslager.
Anders als früher sind es nun nicht mehr hauptsächlich die islamistischen Terroristen von Boko Haram, die für die Entführungen verantwortlich sind, sondern kriminelle Banden. Boko Haram, deren Name sich als «Westliche Bildung ist Sünde» übersetzen lässt, begründet ihren Terror mit dem Kampf für ein Kalifat, in dem vor allem Mädchen das Lernen verboten sein sollte. Die Entführung der Chibok-Mädchen war nach jüngeren Erkenntnissen eher ein Zufall bei einem Raubüberfall – doch der weltweite Aufschrei, der die bis dahin fast unbekannte Gruppe ins Rampenlicht rückte, ließ Boko Haram schnell erkennen, was für ein mächtiges PR-Mittel sie sich geangelt hatten. Die Gruppe nahm Tausende weitere Mädchen und junge Frauen gefangen, um sie teils an Kämpfer zu verheiraten oder als Sklavinnen zu verhökern - vor allem aber um Lösegeld zu erpressen.
Der Großteil der Entführungen findet mittlerweile im Nordwesten des Landes statt. Dort treiben Banden von Warlords ihr Unwesen, die Bauern zur Zwangsarbeit entführen oder Lösegelder von Familienangehörigen fordern. Die sogenannten Banditen sind auch für die jüngsten Massenentführungen von Schulkindern verantwortlich. «Die Entführung der Chibok-Mädchen hat absolut die Generation von Banditen inspiriert, die wir heute haben», analysiert Sicherheitsberater Yahuza Getso Ahmad im Onlinemedium Semafor.
SBM: Millionen-Einnahmen für die Erpresser
Der Weltbank zufolge lebte zuletzt mehr als jeder Dritte in Nigeria in extremer Armut von weniger als 2 Euro am Tag. Steil ansteigende Preise, Mangelwirtschaft und Ernteausfälle wegen blutiger Konflikte treiben viele aus Verzweiflung in die Kriminalität, erklären Experten. Entführungen sind vergleichsweise risikoarm und bringen viel Geld. Lösegeldzahlungen sind seit 2022 in Nigeria verboten – praktisch verscherbeln Familien weiterhin alles, was sie haben, um Kinder wieder freizukaufen. Nach Schätzung von SBM fließen jährlich Millionen Euro in die Kassen der Erpresser.
Auch wenn der Kampf gegen Bildung für Mädchen als Motiv nicht mehr im Vordergrund steht, drohen katastrophale Auswirkungen auf eine ganze Generation. Nach Zahlen des UN-Kinderhilfswerks Unicef von 2022 besucht mehr als die Hälfte aller Mädchen in Nigeria keine Schule. Besorgte Eltern verheiraten Mädchen so früh wie möglich, um sie vor Schlimmerem zu schützen. Tausende Schulen sind geschlossen oder zerstört. Nigerias Regierung rief nach dem Chibok-Fall eine Initiative ins Leben, die Schulen sichern sollte. Hilfsgelder und Investitionen in zweistelliger Millionenhöhe kamen aus der ganzen Welt, doch ihr Verbleib ist nicht geklärt.
«Die Initiative, die die Schulen schützen sollte, besteht nur auf dem Papier. Nichts wird getan, um sie umzusetzen. Es ist ein Versagen der Regierung», sagt «Bring Back Our Girls»-Aktivistin Fatimah Abba Kaka. «Sie sollten die Erkenntnisse der Ermittlungen auswerten, wie die Entführung stattfinden konnte und wo das Versagen lag. Und die Regierung sollte sich darum kümmern, die verbliebenen Mädchen zu befreien.»
«Wir sind immer noch nicht sicher»
Viele der freigelassenen jungen Frauen aus Chibok sind wieder in die Schule zurückgekehrt oder studieren. «Wann immer ich höre, dass wieder Kinder entführt wurden, fühle ich mich fürchterlich, hilflos», sagt eine 28-Jährige, die unter den entführten Mädchen war und nun Natur- und Umweltwissenschaften studiert. «Wir sind immer noch nicht sicher.»
Zwar ist Nigeria die größte Volkswirtschaft des Kontinents mit einer der größten Armeen – aber das Land ist von Korruption zerfressen, Soldaten sind schlecht bezahlt und ausgerüstet, die Polizei existiert in der Fläche kaum. Krisen in jeder Ecke des Vielvölkerstaats mit mehr als 220 Millionen Einwohnern überdehnen die Kräfte.
Der Politologe Chukwudi Victor Odoeme zieht im dpa-Gespräch eine düstere Bilanz: «Die Menschen sind so sehr mit dem Überleben beschäftigt, dass sie sich nicht um die Versäumnisse der Regierung kümmern. Und die Regierenden sind froh, dass niemand sie zur Rechenschaft zieht.»
Von Christina Peters und Sam Olukoya, dpa
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