Hält die Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung verfassungsrechtlichen Bedenken stand? Das Vorhaben sollte unter anderem das Anwachsen des Bundestags aufgrund von Überhangmandaten stoppen.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nimmt das neue Bundeswahlgesetz, das schon im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl angewendet werden soll, ins Visier. Zum Auftakt der zweitägigen mündlichen Verhandlung hagelte es von der Klägerseite scharfe Kritik. Unter anderem gehen die bayerische Landesregierung, Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, die Parteien CSU und Linke sowie eine Gruppe von mehr als 4000 Privatpersonen gegen das neue Wahlrecht vor.
Das Gesetz mit seinen erheblichen Änderungen sei überstürzt verabschiedet worden, ohne dass sich die Opposition hätte beraten können, sagte CDU-Chef Friedrich Merz. Quasi auf den letzten Drücker habe die Ampel die sogenannte Grundmandatsklausel gestrichen. Diese Klausel sorgte bisher dafür, dass eine Partei auch dann im Bundestag vertreten war, wenn sie zuvor an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, aber mindestens drei Direktmandate errungen hatte. Kleinere Parteien wie CSU und Linke, die zu den Klägern der Reform gehören, könnte der Wegfall der Grundmandatsklausel empfindlich treffen.
Regierung will Bild vom «Bläh-Bundestag» entgegenwirken
Aufseiten der Bundesregierung betonte dagegen der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums, Mahmut Özdemir (SPD), die Abgeordneten seien Vertreter der ganzen deutschen Bevölkerung, nicht nur ihres Wahlkreises. Es müsse etwas gegen das zunehmende Akzeptanzproblem der Bevölkerung - das der SPD-Politiker etwa aus Bezeichnungen wie «Bläh-Bundestag» und «XXL-Bundestag» herleitete - getan werden. Die Sperrklausel sei «unausweichlich».
Der Zweite Senat hatte viele Fragen. So sei beispielsweise zu klären, ob diese Klausel möglicherweise strenger geprüft werden müsse. Ist die Sperrklausel zu hoch, weil zu viele Wählerstimmen nicht im Bundestag repräsentiert sind? Braucht es Ausnahmen von der Sperrklausel; vielleicht für Landesparteien, fragte etwa die Berichterstatterin am Bundesverfassungsgericht, Astrid Wallrabenstein. Auch sei zu überlegen, wie sich Wahlkreisbewerber von ihren Parteien unterscheiden würden.
Experten warnen vor Legitimationseinbußen
Sachverständige äußerten sich teils sehr klar zu den Anforderungen an demokratische Wahlen. Ein Wahlrecht solle von Dauer und nicht Ausdruck temporärer Mehrheiten sein und einen fairen Wettbewerb zwischen den Parteien ermöglichen, erklärte der Demokratieforscher Hans Vorländer. Wenn eine hohe Zahl an Wählerinnen und Wählern nicht repräsentiert werde, büßten die demokratischen Institutionen an Legitimation ein. Der Politikwissenschaftler Frank Decker plädierte in diesem Zusammenhang klar dafür, die Sperrklausel von 5 Prozent herabzusetzen - und damit den Anteil nicht berücksichtigter Stimmen abzusenken.
Direktkandidaten seien einem großen Teil der Wählerinnen und Wählern in den Wahlkreisen gar nicht bekannt, sagte Decker. Entscheidend für ihre Wahlentscheidung sei auch bei der Erststimme die Parteien- und nicht Personenpräferenz - die meisten Wähler würden beide Stimmen daher derselben Partei geben, sagte der Politologe Thorsten Faas. Und: den wenigsten Wählern sei überhaupt der Unterschied zwischen den Stimmen bekannt. Viele wüssten nicht, dass die Zweitstimme die entscheidende sei.
Bayern befürchtet verwaiste Wahlkreise
Mit der Neuregelung der Ampel soll die Zahl der Sitze im Bundestag auf 630 gedeckelt werden. Dafür sollen Überhang- und Ausgleichsmandate wegfallen, die den Bundestag bisher immer weiter anwachsen ließen. Nach der letzten Bundestagswahl zählte das Parlament 736 Abgeordnete. Für die Zahl der Sitze einer Partei im Parlament ist künftig allein ihr Zweitstimmenergebnis entscheidend - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Dies träfe vor allem die Unionsparteien.
Den geplanten Wegfall der Überhangmandate kritisierte daher etwa die CSU scharf. Wäre das neue Wahlrecht schon bei der letzten Bundestagswahl in Kraft gewesen, hätten es von 46 gewonnen Wahlkreisen in Bayern sieben der erfolgreichen Wahlkreisbewerber nicht in den Bundestag geschafft. «Das führt zu Frust bei den Wählern», sagte der bayerische Innenminister und Landtagsabgeordnete Joachim Hermann. Ganze Wahlkreise blieben verwaist, ganze Regionen blieben mit ihren Anliegen im Bundestag dann unberücksichtigt.
Am Mittwoch soll weiterverhandelt werden. Ein Urteil aber dürfte erst in einigen Monaten fallen - möglichst deutlich vor der nächsten anstehenden Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres. Denn falls das oberste Gericht Änderungen an der Reform einfordert, müssten diese noch eingearbeitet werden.
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