Trotz US-Vorstoß bleiben hohe Hürden für Gaza-Deal
Die internationalen Vermittler drängen auf ein Abkommen. In Israel führt der bisher größte Vorstoß der USA zur Zerreißprobe. Und was macht die Hamas? Die News im Überblick.
Die internationalen Vermittler drängen auf ein Abkommen. In Israel führt der bisher größte Vorstoß der USA zur Zerreißprobe. Und was macht die Hamas? Die News im Überblick.
Nach dem Vorstoß von US-Präsident Joe Biden für eine Beendigung des Gaza-Kriegs wächst der Druck auf den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Allein in Tel Aviv gingen am Samstagabend rund 120.000 Menschen für ein Abkommen auf die Straße und forderten Neuwahlen.
Präsident Izchak Herzog dankte Biden für dessen Bemühungen und sagte, er selbst habe Netanjahu und der Regierung «meine volle Unterstützung für einen Deal zugesichert, der zur Freilassung der Geiseln führen wird». Es gebe nach jüdischer Tradition keine größere Pflicht als die Rückholung von Gefangenen und Geiseln, «vor allem, wenn es um israelische Zivilisten geht, die der Staat Israel nicht verteidigen konnte», sagte der Präsident.
In Berlin sorgten die jüngsten Vorschläge für die weiteren Verhandlungen für Optimismus. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sehe darin eine greifbare Aussicht auf ein Ende des Krieges, teilte der Sprecher der Bundesregierung mit.
Rechtsreligiöse Minister warnen Netanjahu
Rechtsreligiöse Koalitionspartner Netanjahus drohten dagegen mit dem Platzen der Koalition, sollte sich Israel auf den Deal einlassen. Dieser bedeute einen «Sieg für den Terrorismus» und eine «totale Niederlage» Israels, kritisierte Polizeiminister Itamar Ben-Gvir. Der Plan würde den Krieg beenden, ohne dass die Kriegsziele erreicht seien, schrieb Finanzminister Bezalel Smotrich auf X.
Gaza-Waffenruhe in drei Schritten
Biden hatte am Freitag überraschend Details eines Entwurfs für einen Deal in drei Phasen präsentiert, dem Israel nach Angaben der US-Regierung bereits zugestimmt habe. Die erste Phase sieht demnach eine vollständige und uneingeschränkte Waffenruhe von sechs Wochen und einen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dicht besiedelten Gebieten in Gaza vor. Es würde zunächst eine bestimmte Gruppe von Geiseln freigelassen - darunter Frauen, Ältere und Verletzte. Im Gegenzug würden Hunderte Palästinenser freikommen, die in Israel inhaftiert sind. In einer zweiten Phase würden die Kämpfe dann dauerhaft eingestellt und die verbliebenden Geiseln freigelassen. In einer letzten Phase würde ein Wiederaufbau des Gazastreifens beginnen.
Ein im Libanon ansässiger Hamas-Sprecher äußerte sich am Samstag positiv. Man werde das von Biden dargelegte Angebot der Israelis prüfen. Der in Tunneln unter dem Gazastreifen ausharrende militärische Anführer der Hamas, Jihia al-Sinwar, ist nach Informationen des «Wall Street Journals» jedoch nur zu einem Abkommen bereit, wenn es das Überleben der Hamas als militärische und politische Kraft in Gaza sichert. Netanjahu wiederum machte am Samstag deutlich, dass sich Israels Bedingungen für ein Ende des Krieges nicht geändert hätten: die Zerstörung der Hamas und die Freilassung aller Geiseln.
Die in dem Konflikt als Vermittler fungierenden Staaten Ägypten, USA und Katar riefen Israel und die Hamas in einer gemeinsamen Erklärung zur Einigung auf ein Abkommen auf.
Netanjahus Berater: Viele Details noch ungeklärt
Israel habe zwar dem von Biden dargelegten Vorschlag für ein Abkommen zugestimmt, viele Einzelheiten seien aber noch ungeklärt, betonte Ophir Falk, außenpolitischer Berater von Regierungschef Netanjahu gegenüber der britischen Zeitung «The Sunday Times». «Es ist kein guter Deal, aber wir wollen unbedingt, dass die Geiseln freigelassen werden, und zwar alle», sagte er. «Es sind noch viele Details zu klären», bekräftigte Falk und verwies darauf, dass sich Israels Bedingungen nicht geändert hätten: neben der Freilassung aller Geiseln die Zerstörung der Hamas. «Die Vorstellung, dass Israel einem dauerhaften Waffenstillstand zustimmen wird, bevor diese Bedingungen erfüllt sind, ist ein Rohrkrepierer», hatte Netanjahu erklärt.
Um den von Biden präsentierten Plan ging es am Sonntag auch in einem Telefonat zwischen Netanjahu und Scholz. Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte im Anschluss: «Die Bundesregierung schließt sich dem Appell Washingtons an: Die Hamas muss ihrem mörderischen Treiben endlich ein Ende setzen und die Geiseln freilassen - mit dem israelischen Angebot besteht nunmehr die greifbare Aussicht auf ein Ende der Kämpfe und auf ein Ende des Krieges.»
Spielt die Hamas auf Zeit?
Der Anführer der Hamas im Gazastreifen, Sinwar, dessen Zustimmung für eine Vereinbarung erforderlich ist, glaube wiederum, dass die Zeit auf seiner Seite sei und der Krieg Israel immer tiefer in einen Sumpf hineinziehe, berichtete das «Wall Street Journal». Die zivilen Opfer in Gaza trügen dazu bei, Israel zu einem internationalen Paria zu machen, habe Sinwar seinen Verbindungsleuten in Notizen aus dem Untergrund übermittelt, berichtete die Zeitung. Während viele der im Exil lebenden Vertreter des politischen Flügels der Hamas zeigen wollten, dass die Hamas sich für die Beendigung des Leidens der Zivilbevölkerung einsetze, wolle Sinwar sicherstellen, dass die Hamas eine maßgebliche politische Kraft in Gaza bleibt.
In dem von Biden dargelegten Vorschlag für ein Abkommen sei nicht erwähnt, wer nach dem Krieg die Herrschaft über den Gazastreifen übernehmen würde, berichtete die «New York Times». Sollten keine anderen Vereinbarungen getroffen werden, könne dies dazu führen, dass die Hamas de facto wieder die Herrschaft über das Gebiet übernehme. Dies wäre aus Sicht der Islamisten nach fast acht Monaten Krieg ein strategischer Sieg, so die Zeitung.
Israel behält sich Recht auf Fortsetzung des Krieges vor
Ein israelischer Beamter machte unterdessen gegenüber der «Times of Israel» deutlich, dass sich Israel in dem von Biden dargelegten Angebot das Recht vorbehalte, die Kämpfe jederzeit wieder aufzunehmen, sollte die Hamas gegen Bedingungen des vorgeschlagenen Abkommens verstoßen.
Ein Durchbruch bei den festgefahrenen Gesprächen sei zwar möglich. Doch die Meinungsverschiedenheiten in Detailfragen würden angesichts der großen Unterschiede zwischen den Kriegszielen und politischen Interessen Israels und der Hamas wahrscheinlich schwer zu überwinden sein, zitierte das «Wall Street Journal» beteiligte Unterhändler.
Auslöser des Krieges war ein Massaker, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Sie ermordeten mehr als 1200 Menschen und verschleppten mehr als 250 Geiseln nach Gaza. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Dabei wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bislang mehr als 36 400 Menschen getötet. Die Zahl, die nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheidet, lässt sich unabhängig kaum prüfen.
UN: Alle 36 Unterkünfte in Rafah inzwischen leer
Indessen sind alle 36 Unterkünfte des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens nach Angaben der Organisation inzwischen leer. «Wegen der Einsätze der israelischen Streitkräfte waren Tausende von Familien zur Flucht gezwungen», schrieb UNRWA bei X.
Man schätze die Zahl der Binnenflüchtlinge in der benachbarten Stadt Chan Junis und im zentralen Abschnitt des Gazastreifens auf 1,7 Millionen. Insgesamt leben in dem schmalen Küstenstreifen rund 2,2 Millionen Menschen. «Die humanitären Gebiete schrumpfen weiter», schrieb die UN-Organisation und forderte eine sofortige Waffenruhe. Hilfsorganisationen warnen immer wieder, es gebe keinen sicheren Ort im Gazastreifen.
Heftige Gefechte zwischen Israel und Hisbollah - Zwei Tote im Libanon
An Israels Grenze zum Libanon kam es erneut zu heftigem gegenseitigem Beschuss. Die libanesische Nachrichtenagentur berichtete, bei einem israelischen Luftangriff in Hula im Süden des Libanons seien zwei Zivilisten getötet worden. Die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah reklamierte einen Angriff mit mehreren Drohnen auf eine israelische Militärbasis auf den besetzten Golanhöhen für sich und berichtete von Opfern. Dafür gab es zunächst keine israelische Bestätigung.
Die israelische Armee teilte mit, die Luftwaffe habe einen militärischen Stützpunkt der proiranischen Hisbollah in der Bekaa-Ebene im Landesinneren angegriffen. Die Hisbollah habe zuvor eine Rakete auf eine israelische Drohne gefeuert, die in libanesischem Luftraum unterwegs gewesen sei.
Die Luftwaffe habe außerdem in der Nacht eine weitere Einrichtung der Hisbollah in Bint Dschubail und Einsatzzentren in anderen Orten im Süden des Libanons angegriffen.
Chile schließt sich Völkermord-Klage Südafrikas gegen Israel an
Chile will sich der Völkermord-Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel anschließen. «Wir werden niemals, niemals aufhören, uns über die wahllosen und absolut unverhältnismäßigen Aktionen der israelischen Streitkräfte gegen unschuldige Zivilisten, insbesondere palästinensische Frauen und Kinder, zu empören», sagte Chiles Präsident Gabriel Boric in einer Rede vor dem Parlament. Deshalb werde sich das südamerikanische Land der Klage gegen Israel vor dem IGH in Den Haag «anschließen und diese unterstützen».
Boric verurteilte in seiner Rede auch die Terroranschläge der islamistischen Hamas vom 7. Oktober in Israel und forderte die Freilassung der israelischen Geiseln im Gazastreifen. «Ich möchte hier sehr deutlich machen, dass es keinen Raum für ein Unentschieden gibt und ich nicht akzeptiere, zwischen Barbareien zu wählen.» In einer Mitteilung des Außenministeriums auf der Plattform X hieß es, Chile fordere einen sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen und die Anerkennung von zwei Staaten - Palästina und Israel.
Südafrika hatte bereits Ende 2023 Klage gegen Israel eingereicht und dem Land die Verletzung der Völkermordkonvention vorgeworfen. Das UN-Gericht hatte in einer Eil-Entscheidung Israel zu Schutzmaßnahmen verpflichtet, um einen Völkermord zu verhindern. Außerdem müsse Israel mehr humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zulassen. Ende Mai hatte dann der Internationale Gerichtshof Israel verpflichtet, den umstrittenen Militäreinsatz in Rafah im Süden des Gazastreifens sofort zu beenden.
Von Lars Nicolaysen und Sara Lemel, dpa
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