Israelis und Angehörige der Geiselfamilien  fordern Premierminister Netanjahu auf, sich stärker für die Freilassung der verbleibenden Geiseln im Gazastreifen einzusetzen.
Ilia Yefimovich/dpa
Israelis und Angehörige der Geiselfamilien fordern Premierminister Netanjahu auf, sich stärker für die Freilassung der verbleibenden Geiseln im Gazastreifen einzusetzen.
Krieg in Nahost

Tausende demonstrieren in Israel nach Tod von drei Geiseln

Die Rettung schien nah. Doch dann erschießen israelische Streitkräfte versehentlich drei Geiseln. Der Druck auf Regierungschef Netanjahu und den bereits viel kritisierten Militäreinsatz in Gaza steigt.

Die versehentliche Tötung von drei Geiseln durch israelische Soldaten im Gazastreifen hat schwere Bestürzung und Proteste ausgelöst. In der Metropole Tel Aviv strömten am Samstagabend Tausende Menschen auf die Straße, wie israelische Medien berichteten. Angehörige und Unterstützer demonstrierten für die Freilassung der noch im Gazastreifen verbliebenen Verschleppten.

Ein Angehöriger einer Geisel warf dem Kriegskabinett um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor, es habe militärischen Druck als nötig bezeichnet, damit die Geiseln freigelassen würden. Inzwischen kämen jedoch immer mehr Geiseln als Leichen zurück.

Auch angesichts vieler toter Zivilisten und einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen wächst die Kritik an dem Militäreinsatz. Auslöser des Gaza-Kriegs war das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels, das Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten.

Getötete Geiseln waren ohne Hemd und mit weißer Flagge

Israelische Soldaten hatten die drei Geiseln am Freitag bei dem Militäreinsatz im Gazastreifen versentlich erschossen. Die getöteten Männer seien mehrere Dutzend Meter entfernt von Soldaten aus einem Gebäude gekommen, erklärte ein Vertreter des israelischen Militärs am Samstag. Sie hätten keine Hemden angehabt. Einer habe einen Stock mit einem weißen Stück Stoff in der Hand gehalten. Ein Soldat habe sich den Angaben nach bedroht gefühlt und das Feuer eröffnet.

Zwei der Männer seien direkt getötet worden. Ein dritter Mann sei zurück in das Haus geflüchtet. Ein Kommandeur habe zwar angeordnet, das Feuer zu stoppen, doch als der dritte Mann zurück ins Freie getreten sei, sei erneut geschossen worden. Dabei sei auch dieser getötet worden. «Ich möchte sehr deutlich sagen, dass dieses Vorgehen gegen unsere Einsatzregeln war», sagte der Militärvertreter.

Netanjahu spricht von «unerträglicher Tragödie»

Israels Generalstabschef Herzi Halevi übernahm derweil die Verantwortung für die versehentliche Tötung der drei israelischen Geiseln. «Die Armee und ich als ihr Kommandeur sind für das, was passiert ist, verantwortlich, und wir werden alles tun, um zu verhindern, dass sich solche Fälle in der Zukunft der Kämpfe wiederholen», sagte er in einem auf X veröffentlichten Video.

Regierungschef Netanjahu bezeichnete den Vorfall als «unerträgliche Tragödie». Nach israelischen Schätzungen werden derzeit noch rund 110 verschleppte Menschen im Gazastreifen festgehalten. Ende November hatten Israel und die Hamas unter Vermittlung Katars, Ägyptens und der USA erstmals eine Feuerpause vereinbart, die zwei Mal kurz verlängert wurde. In der Zeit ließ die Hamas 105 Geiseln frei, darunter 14 deutsche Staatsbürger. Israel setzte im Gegenzug 240 palästinensische Häftlinge frei. Mehrere Geiseln sollen auch tot sein.

Berichte über Verhandlungen zur Freilassung weiterer Geiseln

Das Golfemirat Katar vermittelt Berichten zufolge wieder zwischen Israel und der islamistischen Hamas. Dabei gehe es um Bemühungen zur weiteren Freilassung von Geiseln, die aus Israel in den Gazastreifen verschleppt worden waren, wie unter anderem die US-Zeitung «The Wall Street Journal» berichtete. Demnach sollen hochrangige Beamte Israels und Katars in Norwegen zusammengekommen sein. Eine offizielle Bestätigung des Treffens gab es bisher nicht.

Die islamistische Hamas hingegen bekräftigte, keine Verhandlungen im Gaza-Krieg ohne ein Ende der Kampfhandlungen Israels führen zu wollen. Die Haltung der Hamas sei, keine Gespräche zu führen, «solange die zionistische Aggression gegen unser Volk nicht ein für alle Mal aufhört». Dies sei allen Vermittlern mitgeteilt worden.

WHO beklagt dramatische Lage für Zivilisten in Gaza

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) machte erneut auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung aufmerksam. Das schwer beschädigte und größte Krankenhaus von Gaza sei nur noch «minimal funktionsfähig» und müsse dringend zumindest die grundlegendsten Funktionen wieder aufnehmen können, erklärte die WHO am Sonntag. Ein Team des Schifa-Krankenhauses habe dessen Notaufnahme als «Blutbad» beschrieben, in der jede Minute neue Patienten einträfen.

US-Präsident Joe Biden hatte Israel aufgerufen, in dem seit mehr als zwei Monaten dauerenden Krieg mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. Die US-Regierung hatte zuletzt nach Gesprächen mit der israelischen Führung die Erwartung geäußert, dass Israel von einem militärischen Vorgehen mit «hoher Intensität» zu «gezielteren» Operationen übergehen werde. Ein Zeitraum dafür wurde nicht genannt.

Israel öffnet Grenzübergang für Hilfslieferungen nach Gaza

Israel öffnete den Grenzübergang Kerem Schalom für Hilfslieferungen in den Gazastreifen, wie die zuständige israelische Cogat-Behörde mitteilte. Dazu veröffentlichte die Behörde ein Bild mit aufgereihten Lastwagen. Unklar war zunächst, ob die Wagen den Übergang am Sonntag bereits überquert hatten. Das Sicherheitskabinett in Israel hatte die Öffnung des Grenzübergangs vergangene Woche vorläufig genehmigt. Damit soll die Belastung des ägyptischen Grenzübergangs Rafah in Richtung Gaza verringert werden.

Reedereien meiden Suez-Route wegen Beschuss

Große Reedereien meiden unterdessen wegen der Angriffe durch jemenitische Huthi-Rebellen zunehmend die Route durch das Rote Meer und den Suezkanal. Nach den Reedereien Maersk und Hapag-Lloyd setzte am Samstag auch die weltgrößte Container-Reederei MSC ihre Transporte auf dieser Route aus. Die Alternativroute um das südafrikanische Kap der Guten Hoffnung verlängert die Transporte um einige Tage.

Der Verband Deutscher Reeder forderte ein internationales militärisches Bündnis mit deutscher Beteiligung zum Schutz der zivilen Schifffahrt. Dafür sprach sich auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), aus.

Luftwaffe schafft Hilfsgüter nach Ägypten

Die deutsche Luftwaffe flog am Samstag 7,6 Tonnen Hilfsgüter für palästinesische Patientinnen und Patienten nach Ägypten. Darunter waren vor allem Beatmungsgeräte und Brutkästen für Säuglinge sowie Patientenmonitore. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur hatte die Fracht einen Wert von rund 1,4 Millionen Euro. Damit sei auf Anfragen der ägyptischen Regierung reagiert worden. Die Bundesregierung hatte wie die USA und andere Staaten eine Ausweitung der Hilfe für die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen gefordert.

© dpa-infocom, dpa:231217-99-325022/7
Copyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten