Selenskyj: «Russland hat keine Erfolge erzielt»
Stockende Finanzhilfen und kaum Vorankommen bei der Gegenoffensive: Für die Ukraine ist die Lage zum Jahresende nicht leicht. Trotzdem zeigt sich Präsident Selenskyj zuversichtlich.
Stockende Finanzhilfen und kaum Vorankommen bei der Gegenoffensive: Für die Ukraine ist die Lage zum Jahresende nicht leicht. Trotzdem zeigt sich Präsident Selenskyj zuversichtlich.
Knapp zwei Jahre nach Russlands Einmarsch in die Ukraine haben die Staatschefs beider Länder in dem Krieg jeweils Erfolge für sich reklamiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verwies am Dienstag bei seiner großen Pressekonferenz zum Jahresende auf abgewehrte Angriffe entlang der Front. «Russland hat in diesem Jahr keine Erfolge erzielt», sagte Selenskyj in Kiew. Das ostukrainische Gebiet Donezk zum Beispiel habe Moskau weiter nicht komplett erobern können. Stattdessen habe die Ukraine die Kontrolle über das westliche Schwarze Meer weitgehend wieder hergestellt.
Einige Stunden zuvor hatte sich Kremlchef Wladimir Putin vor Vertretern seines Verteidigungsministeriums zufrieden mit dem Kriegsverlauf gezeigt. Als Erfolg präsentierte er dann aber vor allem, dass es dem Westen nicht gelungen sei, Russland eine strategische Niederlage in der Ukraine zuzufügen. Das Ziel sei zerschmettert worden durch die «wachsende Kraft unserer Streitkräfte und Rüstungsproduktion», sagte Putin vor Militärs und Vertretern aus Politik, Kirche und Gesellschaft. Beim Krieg gegen die Ukraine «kann man mit Überzeugung sagen, dass die Initiative aufseiten unserer Streitkräfte liegt», behauptete der Kremlchef.
Putin: Probleme in der russischen Verteidigung
Putin, der den Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 befohlen hat, warf zudem einmal mehr den USA vor, den Konflikt in der Ukraine bis zu einem Krieg getrieben zu haben. Es sei dem Westen stets nur darum gegangen, das Land als Instrument zur Zerstörung Russlands zu benutzen, behauptete er. Zugleich räumte er ein, dass der Krieg gegen die Ukraine Probleme in der russischen Verteidigung aufgezeigt habe. So brauche Russland mehr Drohnen, eine bessere Flugabwehr und ein modernes Satellitenkommunikationssystem. Unmittelbar vor Putins Auftritt schoss die russische Flugabwehr nach Militärangaben im Moskauer Gebiet eine ukrainische Drohne ab.
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte bei der Sitzung in Moskau, die Ukraine habe inzwischen 383.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar. Die Ukraine wiederum gibt die Zahl der Verluste in den russischen Reihen aktuell mit 348.000 Soldaten an. Auch das ist nicht zu verifizieren. Offizielle Zahlen über ihre eigenen Verluste gibt keine der beiden Kriegsparteien bekannt.
Schoigu sagte auch, dass die Zahl der Freiwilligen im kommenden Jahr um mehr als 250.000 auf rund 745.000 Vertragssoldaten steigen solle. Gelockt werden die Russen zum Kriegsdienst demnach weiter mit einem vergleichsweise hohen Sold von umgerechnet rund 2000 Euro im Monat.
Für die Ukraine wiederum ist die Mobilisierung neuer Soldaten nach Worten von Selenskyj eine teure und politisch heikle Frage. «Die Frage der Mobilisierung ist eine sehr sensible», sagte Selenskyj bei seiner Pressekonferenz. Die Armee habe 450.000 neue Soldaten angefordert. Eine zusätzliche Mobilmachung in diesem Umfang erfordere etwa 500 Milliarden Hrywnja (12,2 Milliarden Euro). Für ihn sei es zudem wichtig, wer von den bisher kämpfenden Soldaten dann ein Recht auf Erholung und Heimaturlaub bekomme. Es werde ein komplexer Plan ausgearbeitet für diese Rotation.
Selenskyj weiter zuversichtlich
Zudem zeigte sich Selenskyj zuversichtlich, dass sein Land ungeachtet aktuell stockender westlicher Hilfen künftig sowohl von den USA als auch von der EU weiter unterstützt werde. «Ich bin überzeugt davon, dass die USA uns nicht verraten werden», sagte er. Auch mit Blick auf ein derzeit von Ungarn blockiertes EU-Finanzpaket in Höhe von 50 Milliarden Euro zeigte sich der Staatschef optimistisch: «Es werden sich Mittel finden, diese 50 Milliarden zu erhalten.»
Die Ukraine ist bei der Verteidigung gegen die russische Invasion zu großen Teilen auf die Militär- und Finanzhilfe westlicher Partner angewiesen. Als wichtigster Verbündeter gelten die USA. Aus Kiewer Sicht ist es deshalb äußerst besorgniserregend, dass die Freigabe weiterer Mittel durch das US-Parlament derzeit durch einen Streit zwischen Republikanern und Demokraten blockiert wird.
Nicht bestätigen wollte Selenskyj derweil Prognosen, dass der Krieg in seinem Land noch lange andauern werde. «Ich denke, das weiß niemand.» Die Dauer des Kriegs hänge von vielen Faktoren ab, fügte er hinzu - insbesondere von den Ukrainern selbst. «Wenn wir unsere Widerstandsfähigkeit nicht verlieren, werden wir den Krieg eher beenden.»
Russlands Armee hält derzeit rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets besetzt und hat inklusive der bereits 2014 einverleibten Halbinsel Krim insgesamt fünf ukrainische Gebiete völkerrechtswidrig annektiert. Eine ukrainische Gegenoffensive, die eine Befreiung aller besetzten Gebiete anstrebt, hat in diesem Jahr nur kleinere Geländegewinne gebracht. Auch die russischen Truppen aber sind in den vergangenen zwei Jahren weit hinter den Kriegszielen des Kremls zurückgeblieben und haben Experten zufolge massive Verluste erlitten.
Von Andreas Stein, Hannah Wagner, Friedemann Kohler und Ulf Mauder, dpa
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