Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der deutsch-deutsche Beziehungsstatus: kompliziert. Beim Einkommen, beim Vermögen, bei den Wahlergebnissen herrschen bis heute in Deutschland große Unterschiede zwischen Ost und West. Dazu kommen Groll und Missverständnisse. Doch liefert der neue Jahresbericht des Ostbeauftragten Carsten Schneider (SPD) auch eine positive Erkenntnis: Bei den großen Linien, wie die Gesellschaft aussehen soll, sind sich die Menschen sehr einig. Und viele Ansichten gleichen sich offenbar an.
«Beide Landesteile sind längst viel enger miteinander verwoben, als es manchmal scheint», schreibt Schneider im Bericht. Bei der Vorstellung betonte der SPD-Politiker: «Dieses Land heute ist ein anderes als 1989/1990. Auch Westdeutschland hat sich verändert.» Kulturelle Unterschiede müsse man aushalten, sie seien eine Bereicherung. Gegen Unterschiede materieller Art gelte es, politisch zu arbeiten, um sie zu verändern.
Doch räumte Schneider ein, dass viele Ostdeutsche sich noch immer als Bürger zweiter Klasse fühlten. Und er hatte ein Beispiel parat, das ihn offenbar selbst maßlos ärgert: Als der Deutsche Fußball-Bund das 1.000. Länderspiel der Nationalmannschaft würdigte, fielen nach Schneiders Angaben die 293 Länderspiele der DDR einfach unter den Tisch. Die DDR sei nur als frühere Gegnerin genannt worden, mit dem Hinweis, es handele sich um eine «legendäre Eintagsfliege». Als Fußballfan finde er das «nicht nur ignorant, sondern gefährlich». Populisten nutzten solche Stimmungen, warnte der Thüringer.
Rückhalt für soziale Gerechtigkeit und Leistungsprinzip
Schneiders Bericht «Ost und West. Frei, vereint und unvollkommen» enthält wieder etliche Gastbeiträge, so etwa vom früheren polnischen Präsidenten Lech Walesa, dem Wirtschaftsexperten Michael Hüther oder der Schriftstellerin Anne Rabe. Er präsentiert aber auch neue Erkenntnisse aus dem Deutschland-Monitor, einer Umfrage mit knapp 4.000 Teilnehmern in Ost- und Westdeutschland vom Frühjahr.
Die Jenaer Politikwissenschaftlerin Marion Reiser sagte zu den Ergebnissen, es zeige sich «sehr deutlich, dass in Deutschland einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die gewünschte Gesellschaft gibt». Demnach sind neun von zehn Befragten in Ost und West für eine Gesellschaft mit gleichberechtigten Geschlechtern, mit gleichen Chancen auf Entfaltung der Persönlichkeit, mit einem friedlichen Zusammenleben der Religionen, einem «gelebten sozialen Miteinander» und sozialer Gerechtigkeit - all diese Punkte erhielten um die 90 Prozent Zustimmung. Hinter das «Leistungsprinzip» stellten sich 81 Prozent. Drei von vier Befragten - und zwar in Ost und West - wünschen sich einen starken Sozialstaat.
Weniger Einigkeit bei Klimaneutralität
Eine knappere Mehrheit bundesweit unterstützt die Ziele, in einer «klimaneutralen Gesellschaft» zu leben (57 Prozent) oder in einer Gesellschaft, «in der Zuwanderung als Chance begriffen wird» (56 Prozent). Und diese Ziele werden dem Bericht zufolge in Westdeutschland stärker unterstützt als in Ostdeutschland.
Allerdings heißt es auch: «Diese Ost-West-Unterschiede zeigen sich jedoch nur bei jenen Personen, die vor 1972 in der ehemaligen DDR beziehungsweise in Westdeutschland geboren und sozialisiert wurden. Bei Menschen, die ab 1972 geboren sind und somit überwiegend im wiedervereinigten Deutschland sozialisiert wurden, gibt es hinsichtlich der bevorzugten Gesellschaft kaum Unterschiede zwischen Ost und West.»
800 Euro weniger im Monat
Wirklich? Wie erklärt sich dann die Unzufriedenheit vieler Menschen im Osten mit der Wirklichkeit der Demokratie in Deutschland, mit Politikern und generell mit «denen da oben»? Wie erklärt sich, dass laut Deutschland-Monitor «populistische Einstellungen» mit 30 Prozent der Befragten in Ostdeutschland viel stärker verbreitet sind als in Westdeutschland (20 Prozent)? Sind die großen, luftigen Fragen nach dem «Wie wollen wir leben» relevant - oder nicht doch eher der erlebte Alltag?
Es gebe «noch signifikante Ungerechtigkeiten», sagte die junge ostdeutsche Influencerin Lilly Blaudszun im Deutschlandfunk. Dazu zählte sie, dass Vollzeitbeschäftigte im Osten statistisch im Schnitt gut 800 Euro weniger im Monat verdienten als Westdeutsche. Oder dass 90 Prozent des Wohneigentums in Leipzig Westdeutschen gehörten. «Ich glaube, dass da eben ein ganz großer Faktor liegt, warum Menschen auch unzufrieden sind und Menschen sich auch von den demokratischen Parteien nicht gesehen fühlen.»
Schneider alarmiert über AfD-Ergebnisse
Statt der etablierten Parteien wählten viele Menschen zuletzt in Thüringen, Sachsen und Brandenburg die AfD - ein Befund, den Schneider «erschreckend, ernüchternd und auch alarmierend» findet, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagte. Dass die Zustimmung für die AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg noch höher ausfiel als in westlichen Bundesländern, sei zum Teil mit den harten Brüchen für viele Ostdeutsche in den vergangenen 35 Jahren zu erklären.
Im Deutschland-Monitor heißt es auch, obwohl viele sich ein «Wir-Gefühl» wünschten, nähmen nur 14 Prozent tatsächlich einen starken gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt wahr. Das könnte damit zu tun haben, «dass sehr häufig das Trennende, das Spaltende in den öffentlichen Debatten steht und eben nicht das Gemeinsame, das Einende», sagte Mitautorin Reiser.
Schneider kritisierte im Gespräch mit dpa politische «Polarisierungsunternehmer» und betonte: «Ich halte nichts davon, den Ostdeutschen einzureden, sie seien Opfer, im Gegenteil. Sie sind diejenigen, die sich selbst ermächtigt haben in den letzten 35 Jahren, aus dem, was wirtschaftlich und von der Substanz der DDR noch übrig war, was gebaut haben.»
Wagenknecht: Ostdeutsche sollen sich «Wut nicht ausreden lassen»
Das Bündnis Sahra Wagenknecht erwähnte Schneider im dpa-Gespräch nicht, aber die Parteigründerin sah trotzdem Anlass, Kontra zu geben. Schneider versuche erfolglos, «den Ostdeutschen ihre berechtigte Unzufriedenheit und Wut auszureden», sagte Sahra Wagenknecht. «Beauftragter und Bericht dienen der politischen Schönfärberei, die den Frustpegel eher nur noch weiter anhebt.»
Der Linken-Abgeordnete Sören Pellmann nannte die Bilanz zum Stand der Deutschen Einheit verheerend. «Nach 34 Jahren Deutscher Einheit ist der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht mehr nur brüchig, sondern tief gespalten.» Unions-Fraktionsvize Sepp Müller (CDU) warf der Ampel-Koalition und Schneider persönlich eine «deindustrialisierende Politik» vor.
Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa
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