«Katastrophale Zahlen» zu antisemitischen Vorfällen
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel im Oktober haben Feindseligkeiten gegen Juden in der Bundesrepublik eine neue Dimension erreicht. Das Netzwerk Rias fordert eine Gegenwehr der Gesellschaft.
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel im Oktober haben Feindseligkeiten gegen Juden in der Bundesrepublik eine neue Dimension erreicht. Das Netzwerk Rias fordert eine Gegenwehr der Gesellschaft.
Ein Mann mit Kippa, der in Göttingen mit den Worten angefeindet wird: «Ich reiße dir deine kleine Mütze vom Kopf.» Einer, der die Nachbarin bittet, ihr Auto umzuparken und darauf hört: «Verpiss dich, du dreckiger Jude.»
Eine Israelin, die das WG-Zimmer in Köln nicht bekommt, weil sie sich nicht von Israel distanzieren will. Das sind drei von 4782 antisemitischen Vorfällen, die der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Rias für 2023 dokumentiert.
Es sind so viele wie nie zuvor, rund 83 Prozent mehr als im Jahr davor. Vor allem seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist der Anstieg sprunghaft: Allein 2787 Vorfälle geschahen von da an bis zum Jahresende. Es seien «absolut katastrophale Zahlen», sagte der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, bei der Vorstellung.
Bundesregierung will Lage nicht hinnehmen
«Jüdisches Leben ist hier in Deutschland so stark bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland», ist Kleins Einschätzung der Lage. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dies einzudämmen und die Sicherheit jüdischer Menschen robust zu gewährleisten. Dazu forderte er zusätzliche strafrechtliche Maßnahmen. Das Verbrennen von Flaggen anderer Staaten sei bereits strafbar, das müsse auch für den Aufruf zur Vernichtung anderer Staaten gelten.
Die Bundesregierung werde die Lage nicht hinnehmen, sagte Klein und äußerte zugleich eine Vision, die heute wie eine Utopie klingt: «Wir werden im Kampf gegen Judenhass auch weiterhin nicht ruhen, bis ein Rias-Jahresbericht erscheinen kann, in dem kaum oder gar keine antisemitischen Vorfälle mehr zu verzeichnen sind.»
Meldestellen in elf Bundesländern
Rias unterhält ein Netzwerk von Stellen in elf Bundesländern, bei denen Betroffene oder Zeugen Vorfälle melden können. Darunter sind Angriffe und Bedrohung, aber auch Anfeindungen, die nicht immer strafrechtlich verfolgt werden. Die Zahlen unterscheiden sich also von der offiziellen Kriminalitätsstatistik.
2023 waren es sieben Vorfälle extremer Gewalt, fünf davon nach dem 7. Oktober. Dazu zählen der versuchte Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin sowie Brandanschläge auf das Haus einer Familie im Ruhrgebiet. Hinzu kamen 121 Angriffe, 329 gezielte Sachbeschädigungen, 183 Bedrohungen.
Ein Gefühl der Beklemmung
Der allergrößte Teil der Vorfälle, insgesamt 4060, betraf indes «verletzendes Verhalten». Dazu zählt Rias auch 833 Versammlungen, bei denen antisemitische Parolen, Transparente oder Redebeiträge dokumentiert wurden. Insgesamt sei erstmals die Mehrzahl der dokumentierten Fälle antiisraelischer Antisemitismus, sagte Bianca Loy, Ko-Autorin des Berichts.
Die Folge ist für Jüdinnen und Juden Angst, Beklemmung, das Gefühl der Isolation. Nach einer Umfrage des Zentralrats der Juden nehmen viele weniger oft am Gemeindeleben teil, sie fühlen sich unsicher auf Straßen oder in der Bahn, sie lassen ihre Kinder aus Sicherheitsgründen nicht auf bestimmte Veranstaltungen. All diese Erfahrungen blieben, sagte Rias-Geschäftsführer Benjamin Steinitz. Sollte der Gazakrieg enden, falle vielleicht die «Gelegenheitsstruktur» weg, doch nicht diese Einstellungen. «Es ist wirklich an der Zeit, dass alle, wir alle, die gesamte Gesellschaft sozusagen, dieses Problem annehmen und uns dagegen stellen.»
Und was ist mit der Muslimfeindlichkeit?
Aber die israelische Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, sei deren Politik nicht auch für den Anstieg der Vorfälle in Deutschland mitverantwortlich, wurde Klein in der Pressekonferenz zur Vorstellung der Rias-Zahlen gefragt. Und überhaupt, was sei denn mit den Anfeindungen gegen Muslime in Deutschland? Erst am Montag hatte die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit von einer Zunahme antimuslimischer Vorfälle berichtet und 1926 solcher Vorfälle für 2023 dokumentiert.
Heute kam dann noch eine andere Statistik: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes meldet mit 10 772 Beratungsanfragen ebenfalls einen Höchststand. Darunter können auch Erfahrungen von Antisemitismus sein, aber auch von Rassismus oder anderen Fällen von Diskriminierung. Rassismus äußere sich offener, direkter und härter, sagte die Bundesbeauftragte Ferda Ataman. «Eine «Ausländer-Raus»-Stimmung und zunehmende Menschenverachtung beobachten wir nicht nur beim Feiern auf Sylt oder auf Volksfesten.» Migranten, Menschen mit Behinderung und queere Menschen erlebten sie ganz konkret in ihrem Alltag.
«Wir müssen Allianzen bilden»
Ausgrenzungen gegen Juden und gegen andere Minderheiten, gehört das alles zusammen in dieser aufgewühlten Gesellschaft? Oder wird hier etwas unzulässig vermengt oder gar relativiert in einem Land, das historisch vor allem den millionenfachen Mord an Juden zu verantworten hat?
Klein beantwortete die an ihn gerichtete Frage so: «Es ist natürlich auch nicht hinnehmbar, wenn antimuslimischer Rassismus auftritt, die Zahlen sind auch nach oben gegangen. Das Schlechteste, was passieren könnte, ist, dass der Kampf gegen die eine Diskriminierungsform nun ausgespielt würde gegen die anderen. Wir müssen Allianzen bilden, und ich bin sehr froh, dass das innerhalb der Bundesregierung gut gelingt.»
Von Verena Schmitt-Roschmann und Jörg Ratzsch, dpa
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