In dem Nationalgefängnis in der Hauptstadt sollen 3696 Menschen inhaftiert gewesen sein, wie die Zeitung «Miami Herald» unter Berufung auf das örtliche UN-Büro berichtet.
Odelyn Joseph/AP/dpa
In dem Nationalgefängnis in der Hauptstadt sollen 3696 Menschen inhaftiert gewesen sein, wie die Zeitung «Miami Herald» unter Berufung auf das örtliche UN-Büro berichtet.
Nach Angriff auf Gefängnis

Haitis Regierung ruft Ausnahmezustand aus

Die Eskalation der Gewalt erreicht in Haiti einen neuen Höhepunkt. Banden greifen das Nationalgefängnis an und ermöglichen Inhaftierten die Flucht. Nun ruft die Regierung den Ausnahmezustand aus.

Angesichts der eskalierenden Lage in Haiti nach einem Angriff bewaffneter Banden auf das Nationalgefängnis in der Hauptstadt Port-au-Prince hat die Regierung einen mindestens dreitägigen Ausnahmezustand ausgerufen. Dieser gelte im gesamten Département West, zu dem die Landeshauptstadt gehört, und könne verlängert werden, teilte die Regierung am späten Sonntagabend (Ortszeit) mit. Zusätzlich werde bis Mittwoch in der Zeit von 18.00 Uhr abends bis 5.00 Uhr morgens eine Ausgangssperre verhängt, «um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen».

Die Regierung habe den Schritt «in Anbetracht der Angriffe bewaffneter Banden auf die beiden größten Strafvollzugsanstalten des Landes» gemacht, «die zu Toten und Verletzten bei der Polizei und beim Gefängnispersonal, zur Flucht gefährlicher Gefangener und zur Verwüstung dieser Einrichtungen geführt haben».

Bewaffnete Banden hatten am Samstag das Nationalgefängnis angegriffen und dabei offenbar Hunderten Inhaftierten die Flucht ermöglicht. Die Polizisten hätten die Banditen nicht daran hindern können, eine große Anzahl von Gefangenen zu befreien, die unter anderem wegen «Entführung, Mord und anderen Straftaten» inhaftiert waren, teilte die Regierung mit. Die Angaben in den Medien zu den Entflohenen variierten - von Hunderten bis nahezu allen knapp 3700 Inhaftierten war die Rede. Mehrere Menschen wurden bei dem Angriff am Samstag laut offiziellen Angaben verletzt, auch Tote soll es gegeben haben. Die Zahl der Opfer wurde nicht genannt. Außerdem hatte es auch einen weiteren Angriff auf ein Gefängnis östlich der Hauptstadt in Croix-des-Bouquets gegeben. Ob Inhaftierte dort auch flüchten konnten, wurde nicht mitgeteilt.

Anwälte: Weniger als 100 Insassen übrig geblieben

In dem Nationalgefängnis in der Hauptstadt sollen 3696 Menschen inhaftiert gewesen sein, wie die Zeitung «Miami Herald» unter Berufung auf das örtliche UN-Büro berichtete. In der Regierungsmitteilung wurde keine Zahl genannt, wie viele von ihnen flohen. Der Generalkoordinator des Anwaltskollektivs für die Verteidigung der Menschenrechte (Caddho) in Haiti, Arnel Remy, berichtete von weniger als 100 übrig gebliebenen Insassen und veröffentlichte in den sozialen Medien Bilder von verwüsteten Zellen mit geöffneten Türen. Überprüfen ließen sich seine Angaben nicht.

Die Kriminellen hatten ihren Angriff dem «Miami Herald»-Bericht zufolge mit Drohnen vorbereitet, um sich über die Bewegungen der Gefängniswärter zu informieren und den besten Zeitpunkt für den Angriff zu bestimmen. Die nationale Polizei werde alles daran setzen, die entflohenen Gefangenen zu verfolgen und die Verantwortlichen für diese kriminellen Handlungen und ihre Komplizen festzunehmen, damit die «öffentliche Ordnung wiederhergestellt werden kann», teilte die Regierung mit. 

Die Dominikanische Republik, die auf der Insel Hispaniola östlich von Haiti liegt, werde das Grenzpersonal militärisch aufstocken, wie die Zeitung «Listín Diario» den Generaldirektor der Cesfront zitierte. Dieser Spezialkorps des Verteidigungsministeriums der Dominikanischen Republik ist für die Kontrolle und den Schutz der Landesgrenze zwischen den beiden Staaten zuständig.

Krisengeschüttelter Karibikstaat

Die Bandengewalt in dem krisengeschüttelten Karibikstaat Haiti ist zuletzt wieder eskaliert, nachdem Interimspremierminister Ariel Henry zu Gesprächen um einen internationalen Polizeieinsatz in Kenia war. Nach monatelangen Verhandlungen und einem juristischen Tauziehen unterzeichneten Vertreter beider Länder am Freitag ein entsprechendes Abkommen. Die kenianische Regierung will demnach 1000 Polizeibeamte in den armen Karibikstaat entsenden. Während der Abwesenheit des Regierungschefs legten kriminelle Banden in Teilen von Haitis Hauptstadt das öffentliche Leben mit Waffengewalt lahm. Schüsse fielen unter anderem am internationalen Flughafen. Mehrere Polizisten wurden nach Regierungsangaben getötet.

In dem laut «Miami Herald» völlig überfüllten Nationalgefängnis waren mehrere Bandenanführer inhaftiert gewesen. Außerdem seien dort auch kolumbianische Staatsbürger untergebracht, die als Verdächtige im Zusammenhang mit der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse gelten - und nicht geflüchtet sein sollen. Das kolumbianische Außenministerium forderte die haitianische Regierung deshalb auf, seine Staatsbürger zu schützen und sie an einen sichereren Ort zu verlegen. Moïse war in der Nacht zum 7. Juli 2021 in seiner Residenz mit zwölf Schüssen getötet worden. Den Ermittlungen zufolge führten rund 20 kolumbianische Söldner im Auftrag mehrerer Drahtzieher die Tat aus. Laut US-Justiz lautete der Plan der Verschwörer ursprünglich, Moïse zu entführen und als Staatschef zu ersetzen. Die Hintergründe des Verbrechens sind noch immer nicht zweifelsfrei geklärt.

Seit der Ermordung des Präsidenten und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Henry hat sich die Sicherheitslage in Haiti dramatisch verschlechtert. Brutal agierende Banden kontrollieren nach UN-Schätzung rund 80 Prozent der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und weiten ihr Einflussgebiet zunehmend auch auf andere Teile des Landes aus. Die Gewalt verschärft die prekäre Versorgungslage - fast die Hälfte der elf Millionen Bewohner Haitis leidet laut Vereinten Nationen unter akutem Hunger. UN-Generalsekretär António Guterres hatte am Freitag bei dem Gipfeltreffen der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) zu mehr Unterstützung für eine internationale Mission aufgerufen, die Haiti im Kampf gegen die Bandengewalt helfen soll.

Von Philipp Znidar, dpa
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