Nach dem umfassenden Austausch von Gefangenen zwischen westlichen Staaten und Russland wirbt die Bundesregierung um Verständnis dafür, dass sie einen wegen Mordes verurteilten russischen Agenten ziehen ließ. Dass die Vereinbarung mit Moskau helfen könnte, Spannungen abzubauen oder sogar den Ukraine-Krieg zu beenden, ist nicht absehbar.
Außenministerin Annalena Baerbock bezeichnete den Gefangenenaustausch zwischen Russland, Belarus und mehreren westlichen Staaten als «hochsensibles Dilemma». Sie deutete hartes Ringen innerhalb der Regierung an. «Die Entscheidung hat sich niemand in der Bundesregierung leicht gemacht», sagte die Grünen-Politikerin im Radio-Interview mit BR24.
Innenministerin Nancy Faeser betonte: «Das ist eine sehr, sehr schwere Entscheidung gewesen.» Es sei eine Abwägung verschiedener Güter. «Aus unserer Sicht war das Gut der Freiheit und das Leben der Gefangenen – in Russland, in Belarus – entscheidender», argumentierte sie. Dagegen stand die Freilassung eines verurteilten Mörders. Gemeint ist: der «Tiergartenmörder» Wadim Krassikow.
Warum Deutschland sich im Fall Krassikow schwertat
Dieser kam am Donnerstag im Zuge des Gefangenenaustausches frei. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurde er per Flugzeug von Karlsruhe nach Ankara gebracht. Das Berliner Kammergericht hatte den Mann 2021 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Laut Urteil hat der Russe am 23. August 2019 in Berlin im Auftrag staatlicher russischer Stellen einen Georgier tschetschenischer Abstammung heimtückisch erschossen, der in Deutschland Schutz gesucht hatte. Im Gegenzug ließ Russland unter anderem prominente Oppositionelle wie Wladimir Kara-Mursa frei.
«Die freigekommenen Oppositionellen können ihren wichtigen Kampf gegen Putins grausames Regime fortsetzen», sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Dieser Austausch von Kriminellen gegen Journalisten zeige einmal mehr, «dass Putins Russland auf der falschen Seite der Geschichte steht».
Sorge um Sicherheit der freigelassenen Kremlkritiker
Allerdings stellt sich nach der Ausreise von Krassikow nun noch mehr die Frage, wie sicher Kremlgegner in Europa und insbesondere in Deutschland sind. Denn womöglich könnten potenzielle Attentäter darauf spekulieren, im Falle einer etwaigen Inhaftierung durch einen neuen Austausch freizukommen. Zumal manche in den Sicherheitsbehörden die Sorge haben, dass die im Juli eingeführte ungarische Sonderregel für Gastarbeiter aus Russland und Belarus sich als Einfallstor für russische Agenten, die in den Schengen-Raum einsickern wollen, entpuppen könnte.
Der neuen Regelung zufolge können Arbeiter aus den beiden Staaten für zwei Jahre nach Ungarn kommen und danach ihren Aufenthalt jeweils für drei Jahre verlängern lassen, sooft sie wollen. Um von der Regelung profitieren zu können, müssen sie lediglich beweisen, dass sie in Ungarn Job, Unterkunft und Krankenversicherung haben.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson forderte die ungarische Regierung auf, sich zu erklären. Wenn die Sonderregel «ein Risiko darstellt, werden wir handeln», sagte sie. Was das konkret bedeuten könnte, führte sie nicht weiter aus. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, hatte im Juni in einem dpa-Interview gesagt, um das Einsickern sogenannter reisender Agenten Russlands nach Deutschland zu verhindern, würden Visumsanträge sorgfältig geprüft. Wer dem Verfassungsschutz und seinen Partnern einschlägig bekannt sei, erhalte kein Visum.
«Es ist richtig und wird vom Bundesinnenministerium unterstützt, dass EU-Innenkommissarin Johansson von der ungarischen Regierung umfassende Aufklärung verlangt hat», sagte ein Sprecher des Ministeriums. Nötig seien jetzt detaillierte Informationen, um auf europäischer Ebene mögliche Konsequenzen zu beraten.
Denn die Gefahr von russischer Spionage und Sabotage sei hoch und habe sich seit dem Beginn von Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter verschärft. «Alle EU-Partner sollten daher ihre Bemühungen zum Schutz vor russischer Spionage und Sabotage erhöhen und dürfen keine potenziellen Einfallstore schaffen», hieß es aus dem Haus von Bundesinnenministerin Faeser.
Der frühere russische Präsident und heutige Vize des russischen Nationalen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, deutete an, dass Moskau die freigelassenen Kremlkritiker im Ausland verfolgen könnte. Er empfahl den freigelassenen «Verrätern» auf Telegram, sich neue Namen zuzulegen und sich «aktiv im Rahmen des Zeugenschutzprogramms zu tarnen».
Pistorius nicht überrascht von Inszenierung mit rotem Teppich in Moskau
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bewertet den umfangreichen Gefangenenaustausch mit Russland als Verhandlungserfolg und plädiert für Realismus. «Man kann das eine nicht tun, ohne das andere in Kauf zu nehmen. Das war jetzt hier auch so», sagte er am Rande eines Besuchs in Südkorea. «Ich finde, dass das Kanzleramt hier hervorragend verhandelt hat, dass gemeinsam mit anderen gute Ergebnisse erzielt worden sind, über die man aber natürlich streiten kann in der Wirkung, weil völlig klar ist: Des einen Leid ist des anderen Freud in dem Fall.»
Er freue sich vor allem darüber, «dass Menschen, die unschuldig in russischem Gefängnissen gesessen haben, befreit werden konnten». Die Bilder aus Moskau und der Empfang für die Freigelassenen könnten niemanden, der den russischen Präsidenten Wladimir Putin richtig einschätzt, überraschen.
Krassikow - «belohnt für sein Schweigen»?
Das große Interesse Putins an Krassikow könnte neben dem allgemeinen Schutzversprechen für Geheimdienstmitarbeiter noch einen weiteren Grund haben, vermutet der CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter. «Krassikow war die Schlüsselfigur, ein langer Kollege, Freund, Partner von Putin, die kennen sich seit über 30 Jahren, und Putin lag sehr daran, diesen Mann freizubekommen, weil natürlich Krassikow viel mehr weiß, als er in seinen Verhören preisgegeben hat», sagte Kiesewetter im SWR.
Krassikow sei jetzt «belohnt worden für sein Schweigen», glaubt der Unionspolitiker, zugleich Vize-Vorsitzender des für die Nachrichtendienst-Kontrolle zuständigen Bundestagsgremiums. Der Kreml bestätigte erstmals direkt, dass Krassikow ein Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ist.
Welche Deutschen frei kamen
Am Donnerstag waren insgesamt zehn Personen nach Russland geflogen worden. Drei ehemalige in Russland Inhaftierte kamen in die USA: Der «Wall Street Journal»-Korrespondent Evan Gershkovich, der ehemaligen Soldat Paul Whelan und die Journalistin Alsu Kurmasheva wurden bei ihrer Ankunft kurz vor Mitternacht (Ortszeit) von US-Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris begrüßt und fielen unter Jubel und Freudentränen ihren Familien in die Arme.
13 ehemalige Gefangene wurden nach Deutschland gebracht. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) empfing die Freigelassenen am Flughafen Köln/Bonn. Der Gefangenenaustausch war über Monate von Verhandlern aus Deutschland und den USA vorbereitet worden.
Abgewickelt wurde er mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes MIT am Flughafen in Ankara. Dort wurde, bevor die Freigelassenen in das jeweils auf sie wartende Flugzeug steigen durften, zunächst ihre Identität überprüft.
Bei den deutschen Staatsbürgern, die frei kamen, handelt es sich um Rico K., der in Belarus zum Tode verurteilt worden war, sowie um vier Männer, die in Russland festgehalten worden waren - Patrick S., der 19-jährige Deutsch-Russe Kevin L. und der Politologe Demuri W., sowie der wegen Landesverrats angeklagte Aktivist German M.
Deutsche Abwägungen seit Monaten
Im Fall des «Tiergartenmörders» ging es um einen Mann, der wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Das Berliner Kammergericht fällt sein Urteil 2021 - dabei ist wegen besonderer Schwere der Schuld in so einem Fall eine Haftentlassung auch nach 15 Jahren normalerweise nahezu ausgeschlossen.
Auch Kiesewetter räumt ein, die Bundesregierung habe sich bei ihrer Entscheidung in einem Dilemma befunden. Bundeskanzler Scholz hatte mit Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) schon vor einigen Wochen über den geplanten Austausch gesprochen.
US-Präsident Biden sagte, der Austausch sei ein «harter Brocken» für die Verbündeten der USA gewesen. Besonders Deutschland und Slowenien hätten Entscheidungen treffen müssen, die «gegen ihre unmittelbaren Interessen waren». Auf die Frage, was nun seine Botschaft an Putin sei, antwortete er nur: «Stopp.»
Russlands Ukraine-Krieg unabhängig von Gefangenendeal
Direkten Einfluss auf die Situation in der von Russland überfallenen Ukraine hat der Gefangenenaustausch nach Einschätzung aus Regierungskreisen in Berlin und Washington nicht. Er sehe keinen Zusammenhang zwischen den Verhandlungen über die Inhaftierten und möglichen diplomatischen Bemühungen um ein Ende des Krieges in dem von Russland angegriffenen Land, sagte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan.
«Aus unserer Sicht laufen diese in getrennten Bahnen», sagte Sullivan in Washington. Bei dem einen Thema gehe es um die praktischen Fragen des Austauschs, erklärte Sullivan. «Die andere ist eine viel komplexere Frage, bei der die Ukrainer die Führung übernehmen werden.»
Von Anne-Beatrice Clasmann, dpa
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