Die Union hat eine klare Forderung an die Ampel: Unerwünschte Migration nach Deutschland muss begrenzt werden. Ohne eine verbindliche Erklärung, dass es dazu komme, müsse man gar nicht weiter reden. Auch ein Bekenntnis zu Zurückweisungen an den Grenzen verlangt CDU-Chef Friedrich Merz. Er sieht das als Voraussetzung für weitere Gespräche von CDU und CSU mit Vertretern der Ampel-Koalition (SPD, Grüne, FDP) und den Ländern.
Nun brütet die Regierung über dem Thema. Juristisch ist es vertrackt, politisch nicht minder. Was könnte Deutschland da lostreten in Europa? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt.
Werden Migranten an den deutschen Grenzen bereits abgewiesen?
Ja. Zurückweisungen an deutschen Landgrenzen sind möglich, wenn jemand mit einer Einreisesperre belegt ist oder kein Asyl beantragt. Seit Oktober sind laut Bundesinnenministerium mehr als 30.000 Menschen zurückgewiesen worden. Seit Mitte Oktober 2023 gibt es Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz, bereits seit September 2015 an der deutsch-österreichischen Grenze. An bestimmten deutschen Flughäfen gibt es das sogenannte Flughafenverfahren. Das ist ein beschleunigtes Asylverfahren von maximal 19 Tagen, das an bestimmten deutschen Flughäfen im Transitbereich, also noch vor der Einreise, durchgeführt wird.
Was möchte die Union darüber hinaus durchsetzen?
Die CDU/CSU dringt darauf, Menschen zurückzuweisen, «die in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder des Schengen-Raums bereits Aufnahme gefunden haben oder die einen Asylantrag auch in einem Staat, aus dem sie einreisen wollen, stellen können». An den deutschen Grenzen soll es so lange Kontrollen geben, bis es in Europa «einen funktionierenden Außengrenzschutz» gibt.
Wie ist die Rechtslage?
Nicht eindeutig. Der Völkerrechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz vertritt wie auch andere Juristen die Auffassung, dass nach der Dublin-Verordnung keine Zurückweisungen erlaubt sind. Unter anderem liege es daran, dass Grenzkontrollen nicht gleichsam auf der Grenzlinie stattfinden, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. «Faktisch ist das meist irgendwo mehrere Meter hinter der Grenze.» Zudem müsse ein kurzes Verfahren durchgeführt werden, mit erkennungsdienstlicher Behandlung und Befragung.
Allerdings könne Deutschland sich laut Thym auf eine Ausnahmeregel der EU-Verträge berufen und eine Notlage ausrufen - worauf auch die Union setzt. «Etwas anderes ist, ob das Argument der Notlage im konkreten Fall die Richterinnen und Richter überzeugt und ob darüber hinaus das deutsche Verhalten als verhältnismäßig eingestuft wird», erklärte der Völkerrechtler. «Eine definitive Rechtssicherheit kann Ihnen hier niemand geben.» Das sei im Leben und dem Recht manchmal so. Die Politik müsse also entscheiden im Bewusstsein, dass die Rechtmäßigkeit nicht endgültig feststehe.
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion befindet sich das Land in einer Ausnahmesituation: «Die seit zwei Jahren andauernde Migrationskrise hat zu einer völligen Überlastung unserer Aufnahme- und Integrationskapazitäten geführt», sagte Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) der dpa.
Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus prognostiziert in der «Rheinischen Post», dass Deutschland das rechtliche Risiko wohl dennoch nicht eingehen werde. «Das kann und wird die Bundesregierung nicht machen, denn das würde zu einem rechtlichen Chaos in Europa führen», sagte er. «Wenn man wegen dieser Situation jetzt das EU-Recht aushebelt, dann bricht das dem Rechtssystem in Europa das Genick, weit über dieses Thema hinaus.»
Verhindern Zurückweisungen tatsächlich Einreisen?
Erst einmal ja. Allerdings ist die deutsche Grenze trotz punktueller Kontrollen an einigen Abschnitten grundsätzlich offen. Das ist für Deutschland auch aus wirtschaftlichen Gründen wichtig, wie die zeitweise verschärften Kontrollen während der Corona-Krise gezeigt haben. Damit ist es aber auch für Migranten, die an der Einreise gehindert wurden, prinzipiell möglich, an anderer Stelle doch ins Land zu gelangen. Niemand weiß, wie viele Zurückgewiesene dies tun.
Doch Völkerrechtler Thym erwartet, dass mehr Zurückweisungen auch einen «Abschreckungseffekt» hätten und mehr Migranten von der Reise nach Deutschland abhalten würden. In einem Beitrag für den «Spiegel» schreibt er: «Die Zurückweisungen signalisierten der Weltöffentlichkeit, dass die Willkommenskultur definitiv vorbei ist.» Außerdem erwartet er einen «Dominoeffekt» entlang der Reiserouten. «Die Grenzbefestigungen würden personell verstärkt und auch dort Zurückweisungen praktiziert. Das steigerte die Signalwirkung noch.»
Von einer solchen Kettenreaktion gehen auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) aus. Sie fordern aber auch eine Klärung von Rechtsgrundlagen sowie mehr Technik und Personal.
Was lösen Zurückweisungen politisch aus?
Dazu gibt es zwei Denkschulen. Einerseits fürchtet man einen Zusammenbruch der europäischen Zusammenarbeit und schwere Verwerfungen im Verhältnis zu anderen EU-Staaten. Wenn Deutschland deutlich mehr Menschen nicht ins Land lässt und sich dabei womöglich noch auf eine wackelige Rechtsgrundlage stützt, könnten andere EU-Mitglieder die Zusammenarbeit aufkündigen und Migranten erst recht zur Weiterreise Richtung Deutschland ermutigen. Am Ende könne sogar der über Jahre mühsam ausgehandelte Kompromiss zur europäischen Asylreform - der ohnehin in manchen Details noch ausbuchstabiert werden muss - infrage gestellt werden.
Thym hingegen hält auch einen anderen Ausgang für möglich. «In den Hauptstädten Europas ist inzwischen eine Mehrheit für teils drastische Verschärfungen», schreibt er im «Spiegel». Die Regierungen in Nachbarländern beschwerten sich schon länger darüber, dass das deutsche Asylsystem als «Magnet» wirke. «Die Bundesregierung müsste also nicht befürchten, dass Bulgarien und Griechenland aus Verärgerung ihre Grenzzäune zur Türkei öffnen – mit der Folge, dass noch mehr Personen einreisen.» Stattdessen würde Europa gemeinsamen auf einen stärkeren Kurs zur Begrenzung unerwünschter Migration einschwenken.
Was tut die Regierung grundsätzlich gegen irreguläre Migration?
Einiges ist schon geschehen. So beschloss der Bundestag vor einigen Monaten Regelungen unter anderem für einen längeren maximalen Abschiebegewahrsam. Das in der vergangenen Woche als Reaktion auf den Anschlag von Solingen präsentierte «Sicherheitspaket» sieht Maßnahmen in drei Bereichen vor: eine härtere Gangart bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, Schritte zur entschiedeneren Bekämpfung des islamistischen Terrors und Verschärfungen beim Waffenrecht.
Die Union kritisiert aber, das Paket setze zu spät an, nämlich wenn die Migranten schon in Deutschland seien. Nach einer ersten Gesprächsrunde am Dienstag von Ampel-Koalition, Ländervertretern und Union wird nun unter anderem geprüft, ob Migranten zurückgewiesen werden können, die schon anderswo in Europa registriert sind. Nach der bisherigen Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums geht das nicht einfach so: Asylsuchende müssen demnach in eine Erstaufnahmeeinrichtung gebracht werden, wo dann geprüft wird, ob vielleicht ein anderes europäisches Land für sie zuständig ist.
Es gibt doch schon eine EU-Asylreform - greift die nicht?
Nein. Nach jahrelangem Streit und Gezerre hatten sich die EU-Staaten im Mai dieses Jahres zwar auf eine gemeinsame Asylreform geeinigt, allerdings dauert es noch, bis diese wirklich greift. Ende des Jahres müssen die EU-Länder nationale Pläne zur Umsetzung vorlegen. Bis Juni 2026 müssen diese dann umgesetzt werden.
Und damit sollen weniger Asylbewerber nach Deutschland kommen?
Zumindest ist das die Hoffnung einiger Politiker und Experten. Sie glauben, dass langfristig die Zahl der Migranten in deutschen Städten zurückgehen wird, weil Menschen mit geringen Chancen auf Asyl bereits an den Außengrenzen der EU abgewiesen werden. Außerdem könnten strengere Regelungen dazu führen, dass sich viele gar nicht erst auf den Weg machen.
Was ist sonst von der Reform zu erwarten?
Im Grundsatz soll durch die Asylreform ein einheitliches Verfahren eingeführt werden. Dadurch erhofft man sich eine bessere Verteilung von Migranten zwischen den EU-Ländern und schneller abschieben zu können. Asylbewerber müssen ihren Antrag auch nach der Gesetzesreform weiterhin in dem europäischen Land stellen, in dem sie zuerst ankommen. Sie dürfen also nicht einfach in ein anderes am sogenannten Dublin-System beteiligtes Land weiterreisen und dort Asyl beantragen.
Von Stella Venohr und Martina Herzog, dpa
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