Katharina war sieben Jahre alt, als ihr Lehrer sie nach dem Unterricht dabehielt. Sie sei etwas ganz Besonderes, erzählte ihr der Mann. Dann ging es los. «Der Lehrer fing an, mich im Intimbereich zu berühren und sich daran zu erfreuen.» So erzählte es die Frau Jahrzehnte später der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Katharinas Geschichte ist eine von mehr als 100, die die Kommission inzwischen auf einem eigenen Portal veröffentlicht hat - eines der zentralen Projekte der Jahre 2019 bis 2023, zu denen das Gremium jetzt Bilanz zog. Einer von sieben Erwachsenen hat nach Angaben der Kommission Missbrauch erlebt. Betroffenen Gehör zu schenken und Hilfe zu vermitteln, ist Auftrag des 2016 gegründeten Gremiums. Rund 2600 Menschen vertrauten sich ihm bis Ende 2023 an. Vor allem aber geht es darum, Bedingungen aufzuzeigen, die Missbrauch begünstigen, und gegenzusteuern, Schweigen und Vertuschung aufzubrechen.
Hoffnung auf «gesellschaftlichen Lernprozess»
«Wir hören zu und wir vermitteln Anerkennung für geschehenes Unrecht», sagte Kommissionsmitglied Barbara Kavemann bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts. «Seitens der Betroffenen besteht die explizite Erwartung, dass sie zu einem gesellschaftlichen Lernprozess und zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen, wenn sie denn die Anstrengung auf sich nehmen und ihre Lebensgeschichte öffentlich machen.» Es gehe ihnen auch um besseren Schutz für Kinder und Jugendliche heute und in Zukunft.
Vieles ist aus Sicht der Kommission in den vergangenen Jahren in Bewegung gekommen, etwa beim Thema Missbrauch im Sport. So werde derzeit ein Zentrum «Safe Sport» entwickelt, unter Mitwirkung des Vereins Athleten Deutschland. Auch bei der Aufarbeitung von Missbrauch in pädosexuellen Netzwerken erkennt die Kommission Fortschritte. Die Schulen hinken hingegen aus Sicht des Gremiums hinterher. «Wir bedauern sehr, dass bislang in diesem Bereich noch keine Aktivitäten von Verantwortlichen erkennbar sind, Aufarbeitung zum Thema von Schulen zu machen», sagte Kavemann. «Die Bildungsverwaltung könnte hier eine staatliche Vorbildfunktion übernehmen.»
Schule kann auch Schutzraum sein
Dabei sind Schulen nicht nur Tatort, etwa wenn Lehrer oder Lehrerinnen, Betreuerinnen oder Betreuer Jungen oder Mädchen missbrauchen. Schulen könnten auch Schutzräume sein, erfuhr die Kommission. So berichtete eine Frau namens Johanna den professionellen Zuhörern, dass sie zuhause erst von ihrem Opa und später von ihrem Vater missbraucht wurde.
Als sie ihrer Mutter von der sexuellen Gewalt durch ihren Großvater berichtete, wusste die sofort Bescheid - aus eigener Erfahrung. Vom Missbrauch der Tochter durch den eigenen Mann wollte die Mutter hingegen nichts hören. Erst in der Schule fand Johanna Gehör. «Ich war immer wieder in Gedanken, konnte mich nicht auf den Unterricht konzentrieren und starrte aus dem Fenster», erzählt sie auf dem Portal der Kommission. «Meine Lehrerin sprach mich an und ich erzählte ihr von dem Missbrauch durch meinen Opa. Ich bekam einen Rückzugsort. Ich konnte mich in einem Raum hinlegen und Ruhe tanken.»
Die Erfahrung der Betroffenen trage dazu bei zu verstehen, warum sexualisierte Gewalt passieren könne und warum niemand eingreife, sagte Kommissionsmitglied Stephan Rixen. Die Kommission selbst sei nötig als Motor, damit das Thema Aufarbeitung präsent bleibe - «weil wir, wenn ich so sagen darf, eine Art produktiver Störfaktor sind, so eine Art kritisches Widerlager», sagte Rixen. «Wir merken schon auch, dass in manchen gesellschaftlichen Bereichen es Widerstände immer noch gibt, dass es auch Abwehr gibt bei diesem schwierigen Thema.» Die Kommission sei keine Staatsanwaltschaft und kein Untersuchungsausschuss, habe aber «kommunikative Kraft».
«Die Aufarbeitung ist nicht vorbei»
Die Arbeit zeige Wirkung, sagte die frühere PDS-Abgeordnete Angela Marquardt, die im Betroffenenbeirat sitzt. Nach einer Anhörung zu Missbrauch im Sport sei zum Beispiel ein Netzwerk von Betroffenen entstanden. «Das sind die jüngeren Fälle, das sind die Fälle von heute», sagte Marquardt. Es gebe inzwischen zwei Anlaufstellen. «Und ich darf Ihnen sagen, dass fast täglich Anrufe eingehen.» In Institutionen wie im Sport habe sich das Bewusstsein verändert. Daraus ergäben sich Debatten, daraus erwachse aber auch Mut von Betroffenen, sich an die Stellen zu wenden. Das bedeute aber auch: «Wir kriegen natürlich auch immer mehr Fälle in der Gegenwart.»
Die Aufarbeitung bleibe ein Dauerthema, sagte auch Sabine Bergmann, die 2010 von der Bundesregierung zur Missbrauchsbeauftragten berufen wurde und Ende 2023 als Mitglied der Unabhängigen Kommission ausschied. «Es hat sich eine Menge bewegt in dieser Zeit, aber es ist auch nicht vorbei. Aufarbeitung ist nicht vorbei.» Die Arbeit der Kommission wurde zuletzt bis Ende 2025 verlängert und soll gesetzlich so abgesichert werden, dass sie auf Dauer weitergehen kann.
Die Kommission brauche mehr Rechte zur Aufklärung, zugleich müssten das Thema und Schutzkonzepte noch stärker gesellschaftlich verankert werden, sagte Bergmann. «Mein Alptraum ist ja immer, dass dann in 30 Jahren wieder eine Unabhängige Beauftragte dasitzt und eine Anhörung macht von 50-Jährigen (mit Missbrauchserfahrung).»
Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa
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