Zwei Wochen lang schon frieren die Menschen in der Moskauer Vorstadt Podolsk. Die Heizungen in vielen Wohnungen des Stadtteils Klimowsk sind weiterhin kalt - und das bei Temperaturen, die zuletzt teilweise weit unter minus 20 Grad fielen.
Kurz nach Neujahr gab es einen Unfall im örtlichen Heizkraftwerk. Doch Stadt- und Gebietsverwaltung blieben tagelang untätig. Dadurch froren auch die Fernwärmeleitungen zu und platzten. Bewegung kam in die Angelegenheit erst, als die Klagen der Einwohner in den sozialen Netzwerken immer lauter wurden und es erste Demonstrationen gab.
So haben die Behörden inzwischen den Direktor der örtlichen Rüstungsfabrik, den Chef des dazugehörenden Heizkraftwerks und den Vizebürgermeister von Podolsk festgenommen. Kremlchef Wladimir Putin ließ die Rüstungsfabrik verstaatlichen. Pikant: Der Kraftwerkschef hatte einem Bericht der Zeitung «Nowyje Iswestija» zufolge im Vorfeld vor Problemen mit der maroden Infrastruktur gewarnt und sich geweigert, den Wintertauglichkeitsbericht der Anlage zu unterschreiben. In U-Haft sitzt er trotzdem. Vor der Präsidentenwahl werden Schuldige gebraucht.
Platzende Rohre landesweit
Für rund 20.000 Einwohner in Klimowsk hat sich die Lage dadurch nicht verbessert. Zwar zeigten die obrigkeitstreuen Medien Bürgermeister Grigori Artamanow bei der Inbetriebnahme mehrerer mobiler Kraftwerke. «Das Problem besteht nur darin, dass nach seiner Abfahrt die Kessel erneut heruntergefahren werden, wodurch Heizungen und Rohre in den Häusern endgültig kaputtgehen», schrieb die «Nowyje Iswestija». In vielen Teilen der Stadt liegen die Fernwärmerohre ohnehin viel zu nah unter der Oberfläche, so dass sie einfrieren, wenn nicht ständig heißes Wasser durchfließt. Die Probleme dürften sich bis ins Frühjahr ziehen.
Podolsk ist kein Einzelfall. Russlandweit von Kaliningrad im Westen bis Nowosibirsk im Osten sind Hunderte Ortschaften und Zehntausende Menschen von platzenden Fernwärme- oder Warmwasserleitungen, ausfallender Kraftwerksapparatur und ähnlichem betroffen. In Elektrostal, einer weiteren Großstadt im Gebiet Moskau, sind seit Winteranfang die Wohnungen kalt. Die Einwohner wärmen sich an Lagerfeuern. In der Millionenstadt Nischni Nowgorod haben sich hingegen gut ein Dutzend Menschen Verbrennungen zugezogen. Ein geplatztes Rohr überflutete mehrere Straßen im verschneiten Stadtzentrum mit heißem Wasser.
Trinkwasserversorgung in Hafenstadt Sewastopol ausgefallen
Die russischen Behörden stellen indes in der Hafenstadt Sewastopol auf der seit 2014 von Moskau annektierten Krim vorläufig die Trinkwasserversorgung ein. «Es gab einen drastischen Zufluss von Schmutzwasser in den Fluss Tschornaja, der Grundwasserspiegel ist gestiegen», begründete der Gouverneur von Sewastopol, Michail Raswoschajew bei Telegram die Maßnahme.
Erst ab Mittwochabend könne die regelmäßige Wasserversorgung wieder aufgenommen werden. Bis dahin habe er arbeitsfreie Tage in der Stadt angeordnet, sagte Raswoschajew.
Hintergrund sind schwere Schneefälle und eine zugleich einsetzende Schneeschmelze vor ein paar Tagen. Diese haben offiziellen Angaben nach zum Überlaufen der Wasserreservoirs und zur Verschmutzung der Trinkwasserfilter geführt. Schon am Wochenende bekamen die Bewohner eines Großteils von Sewastopol daher nur stundenweise Trinkwasser.
Allerdings räumte Raswoschajew ein, dass trotz dieser Beschränkungen selbst in der begrenzten Zeitspanne nicht alle Haushalte mit fließendem Wasser versorgt werden können. Daher müssen sich die Bürger in vielen Stadtteilen an fahrenden Zisternen ihr Wasser holen.
Der Kollaps der Wohnungswirtschaft habe inzwischen 43 russische Regionen erfasst, berichtete das unabhängige Internetportal 7x7. Das ist etwa jedes zweite Verwaltungsgebiet des Landes.
Katastrophale Lage widerspricht Putins Bild
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung steigt. Bilder frierender und protestierender Menschen sind für den Wahlkampf Gift. Putin will sich schließlich im März zum fünften Mal als Präsident wiederwählen lassen. Neben Großmachtfantasien hat der seit fast einem Vierteljahrhundert herrschende 71-Jährige in der Vergangenheit auch immer mit dem Thema Stabilität für sich geworben. Sei Russland in den 1990er Jahren in Chaos, Kriminalität und Armut versunken, so habe er die Lage im Land wieder unter Kontrolle bekommen. Die Kette technischer Katastrophen widerspricht diesem Bild.
Die Probleme haben Systemcharakter. Natürlich steht das Riesenreich schon aufgrund seiner Geografie und seines harten Klimas vor schweren Herausforderungen bei Aufbau und Instandsetzung der Infrastruktur. Doch jahrzehntelang wurden auch Betriebe der kommunalen Wohnungsverwaltung unterfinanziert. Vielerorts wurden nur die bereits zu Sowjetzeiten bestehenden Netze mit minimalen Reparaturen weiter genutzt. Nach Angaben von Sergej Pachomow, dem Leiter des Wohnungsbauausschusses im russischen Parlament, der Staatsduma, waren bereits Mitte 2022 mehr als 70 Prozent der kommunalen Infrastruktur verschlissen. Zugleich boomte der private Wohnungsbau, so dass nun viel mehr Häuser an alte Strom-, Fernwärme-, Wasser- und Abwasserleitungen angeschlossen sind.
Angesichts der drastisch gestiegenen Ausgaben für Rüstung, Militär und Sicherheitsorgane wegen des vom Kreml gestarteten Angriffskriegs gegen die Ukraine ist aber wohl auch in den kommenden Jahren nicht mehr Geld für den Erhalt der Infrastruktur drin. Im Gegenteil: Die Ausgaben sollen bis 2026 auf weniger als die Hälfte gekürzt.
Als Kümmerer zeigt sich der Kremlchef dieser Tage ebenfalls nicht. Bei den Frierenden tauchte er nicht auf. Und wer erwartet hatte, dass er zumindest bei einem Gespräch mit Vertretern von Kommunen am Dienstag auf das derzeit drängendste Thema eingehen werde, sah sich getäuscht. Stattdessen ging es einmal mehr vor allem um seinen Krieg, in dem er sich siegesbewusst gab und verkündete, die in der Ukraine gemachten Eroberungen auf keinen Fall zurückzugeben.
Immerhin für einen Moment gab Putin seinen Landsleuten die Illusion, mit ihnen zu frieren. Vor zwei Wochen flog er überraschend in die Polarregion Tschukotka. Das sollte den Wählern den Eindruck vermitteln, dass auch Putin friere, dass der Präsident bei seinem Volk sei, erläuterte der Politologe Abbas Galljamow die Intention des Ausflugs. Der Eindruck währte aber nur kurz. Putin ließ sich nämlich in der Arktis die Aufzucht von Tomaten im Gewächshaus demonstrieren. Dieses Problem dürfte die Russen derzeit am wenigsten bewegen.
Von André Ballin, dpa
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