Vor 35 Jahren begann in München die Geschichte von Milli Vanilli - wenige Jahre danach war sie schon wieder vorbei. Der Grund: Der womöglich größte Betrugsskandal der Pop-Geschichte. Als Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde, dass Robert «Rob» Pilatus und Fabrice «Fab» Morvan ihre Hits nie selbst gesungen, sondern die Lippen nur zu den Stimmen anderer bewegt hatten, ging ein Aufschrei durch die Musikwelt.
Regisseur Simon Verhoeven («Männerherzen») bringt die Geschichte hinter diesem Skandal nun auf die Leinwand. «Girl You Know It's True» heißt sein Film ebenso wie der größte Hit von Milli Vanilli. Ein passender Titel für einen Film über das Spiel mit der Wahrheit und der Illusion.
Zurück an die Anfänge
Er beginnt damit, wie «Rob» und «Fab» in einem rockstartypisch zugerichteten Hotelzimmer auf dem Sofa sitzen und rückblickend über das sprechen, was sie gemeinsam erlebt haben. Es ist eine Art Zwischenwelt. Denn zu dem Zeitpunkt, an dem die beiden miteinander sprechen, ist schon klar, dass einer von ihnen tot ist. Pilatus starb bereits 1998, gezeichnet von seiner Drogensucht.
Doch Verhoevens Film geht dann zurück an die Anfänge. Er erzählt von Pilatus' Kindheit als schwarzes Adoptivkind, das von seinen weißen Eltern demonstrativ durch die Nachbarschaft geführt wird, sich nie zugehörig gefühlt hat und verzweifelt nach Liebe und Akzeptanz sucht.
Dass auch der Franzose «Fab» auf dieser verzweifelten Suche ist, ist vielleicht ein Grund dafür, dass die beiden Jungs sich so schnell anfreunden und - so erzählt es der Film zumindest - auch der, dass sie sich so verführen lassen vom Ruhm und dem, was der mit sich bringt. «Dance With A Devil», heißt einer der Milli-Vanilli-Hits: Tanz mit einem Teufel.
Nicht ganz als Teufel, aber gewissermaßen als Gegenpart zu den gutgläubigen Jungs aus schwierigen Verhältnissen inszeniert Verhoeven Frank Farian. Matthias Schweighöfer spielt den Entdecker und Produzenten von Milli Vanilli - der den Betrug schließlich öffentlich machte - aber nicht als bösen Antagonisten, sondern als jemanden, der sich selbst vom Ruhm hat verführen lassen und der getrieben ist von dem Ehrgeiz, musikalisch die USA zu erobern.
Viel Humor und Authentizität
Aus dem Kontrast zwischen glitzernder Traumwelt in Los Angeles und Hühnerhaltung und Kartoffelsuppe in der deutschen Provinz ergeben sich einige der zahlreichen humorvollen Momente in diesem liebevoll erzählten und ausgestatteten Film.
Verhoeven, der auch das Drehbuch geschrieben hat, legt viel Wert darauf, die schillernden 80er und 90er wieder aufleben zu lassen, und auf größtmögliche Ähnlichkeit mit den Originalen. Tijan Njie als «Rob» und Elan Ben Ali als «Fab» kommen - auch dank detailverliebter Ausstattung - sehr nah ran an die beiden echten Mitglieder des Erfolgsduos.
Auch darum gelingt es dem Film, die Zuschauer mitzunehmen auf die «Achterbahnfahrt», wie Verhoeven die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg, dem rauschhaften Erfolg und dem harten Aufprall auf dem Boden der Tatsachen nennt. «Diese Geschichte hat alles», sagte er im Interview der Deutschen Presse-Agentur - und fügte mit Blick auf die ikonischen Outfits des Duos hinzu: «Es ist so ein bisschen Shakespeare in Radlerhosen.»
Neuer Blickwinkel
Als er ein Teenager war, habe er die beiden noch als Tänzer im Münchner Nobel-Club P1 erlebt, sagte er. Wohl ein Grund für das Herzblut, das er merklich in diesen Film gesteckt hat und auch dafür, dass er klar Position bezieht.
Er inszeniert das Erfolgsduo nicht als geldgierig und skrupellos, wie sie nach Bekanntwerden des Skandals oft dargestellt wurden, sondern als Sündenböcke, die als einzige büßen mussten für einen Betrug, an dem so viele verdienten.
Sein Film passe gut in die heutige Zeit. «Dieses Thema, berühmt werden um jeden Preis, ist ein aktuelles Thema», sagte Verhoeven bei der Weltpremiere in München. «Der Film stellt sehr viele interessante Fragen über unsere Zeit», sagte er auch in Hinblick auf das Influencer-Phänomen. Ob der Skandal um Milli Vanilli auch in der heutigen Zeit, in der Menschen damit berühmt werden, auf TikTok die Lippen zur Musik Anderer zu bewegen, überhaupt einer wäre, ist eine dieser Fragen.
Von Britta Schultejans, dpa
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