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Schul- und Komplementärmedizin

Heidelberg könnte Vorreiter in Sachen Krebsbehandlung werden

Ein Heidelberger Krebspatient bewältigt die Folgen seiner Chemotherapie mithilfe der Chinesischen Medizin - Sein Beispiel könnte Schule machen.

Achterbahnfahrt für Patienten beginnt

Für Thorsten Brahms (Name von der Redaktion geänder) war es einfach zu viel. Erst die Schock-Diagnose, dann die Informationsflut, dann der Ärztemarathon: Im Dezember 2017 werden bei dem 54-Jährigen nach einem Sportunfall im MRT schwere Knochenschädigungen an der Wirbelsäule festgestellt. Die Radiologin erkennt sofort: Das ist Krebs. Metastasen in der Wirbelsäule. Im Liegendtransport geht es vom Heimatort Ladenburg nach Mannheim: Orthopädie des städtischen Klinikums. Der behandelnde Arzt schlägt eine OP der Wirbelsäule vor. Versteifung von Wirbelkörpern.

Die Achterbahnfahrt beginnt: Hausarzt, Facharzt, Heilpraktiker, Internetlektüre - alle meinen es gut. Eine Frage, zehn Meinungen. Je tiefer Thorsten Brahms und seine Frau Monika in das Thema einsteigen, desto verwirrender wird es: Chemotherapie, Misteltherapie, Hyper-thermie, induzierte Fiebertherapie, Mitochondrientherapie, Vitamin-Therapie, Ozon-Therapie, Strahlentherapie oder doch erst die OP und dann die Versteifung der Wirbelkörper - die Therapieliste wird für die Familie Brahms so lang wie die Einkaufsliste vor den Weihnachtsfeiertagen. Und jeden Tag finden Sie eine neue These. Nur keine Erkenntnis.

Der Fall Brahms ist kein Einzelfall, sondern symptomatisch: Es gibt in Sachen Volkskrankheit Krebs viele Meinungen, viele Interessen, viele Informationen, zu wenig Kooperation. Es gibt keine systematischen Brückenschläge zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin. Dabei sind die Zahlen alarmierend: Fast 500.000 Krebserkrankungen allein in Deutschland pro Jahr. Experten wissen: Jeder zweite Mann und jede dritte Frau werden irgendwann einmal im Leben an Krebs erkranken.

Patienten verlangen eine komplementäre Behandlung

Während die Onkologen und die Komplementärmediziner in der Bekämpfung der Volkskrankheit große Fortschritte machen, tobt der Krebs-Informationskrieg im Internet: Zwischen Hausärzten, Heilpraktikern und Onkologen. Doch was hilft wirklich? Eine Zahl aus Heidelberg: 80 Prozent der Krebs-Patienten verlangen nach komplementären Behandlungsmethoden im Kampf gegen den Krebs. Denn die Schulmedizin alleine packt es nicht.

Die "Deutsche Ärztezeitung" zitiert 2017 eine US-Studie über den wachsenden Druck, onkologische Schulmedizin und komplementäre Krebsmedizin zu vernetzen. Tenor der Wissenschaftler: Die Krebs-Patienten von heute verlangen neben der Standard-Therapie eine Komplementärtherapie.

Zugleich lauert hinter diesem Trend eine Gefahr: Denn die Informationsdefizite zwischen schulmedizinischer Onkologie und komplementärer Krebstherapie, so die Forscher, seien zum Teil verheerend: Viele Anbieter von Komplementärmedizin hätten ein zu geringes schulmedizinisches Wissen, etwa zu Wechselwirkungen zwischen pflanzlichen Präparaten. Risiken bestehen auch zwischen Krebsdiäten und konventionellen Therapien. Umgekehrt sei das fehlende Wissen über komplementäre Therapien bei Hausärzten und Onkologen ein Hemmnis - oftmals reiche es nicht für ein aufklärendes Gespräch mit Patienten.

Heidelberg könnte zum Vorreiter werden

Heidelberg, so sagen es viele Gesundheitsexperten, könnte zum Vorreiter einer solchen Informations-Allianz in Sachen Krebs in Europa werden. Der Standort ist mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), dem Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen (NCT)sowie führenden Medizinern im Bereich der komplementären Krebsmedizin exzellent besetzt. Eigentlich ein Bilderbuchstandort, wenn das unterschiedliche Wissen in Sachen Krebs vernetzt wird. Der Heidelberger Onkologe und stellvertretende Leiter des NCT Prof. Dr. Guy Ungerechts ist gesprächsbereit: "Die großen Fortschritte im Kampf gegen den Krebs werden in der Zukunft durch die Kombination verschiedener Behandlungswege kommen. Immuntherapie, Chemotherapie, Stammzellentherapie und vieles mehr. Wir sollten grundsätzlich alle miteinander reden. Auch mit Experten für seriöse komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden zum Wohl der Patienten".

Diese Gesprächsbereitschaft, so der Krebsforscher und Schulmediziner, braucht jedoch eine seriöse wissenschaftliche Grundlage. Ungerechts: "Für ein Thema wie z.B. die Wirkung einer chinesischen Heilgymnastik auf den Verlauf einer Krebserkrankung gibt es keine prospektiven wissenschaftlichen Studien. Wenn es diese gäbe und sie wären positiv, dann würden wir - die Schulmediziner - diese Ansätze sicher öfters implementieren. Ich denke wir müssen da hin. Im Status quo fehlen diese Studien jedoch und das ist bedauerlich".

Erster Masterstudienganges für chinesische Medizin an der Universität Porto

Der renommierte Heidelberger Mediziner Prof. Dr. Johannes Greten ist Leiter des ersten Masterstudienganges für chinesische Medizin an der Universität Porto. Er sieht besonders für den Standort Heidelberg eine große Chance. Die Spitzen-Onkologie des NCT ist für ihn gerade als Vertreter der komplementären Medizin ein Segen: "Die Spitzenonkologie kann selbstverständlich vieles, was die komplementäre Medizin inklusive der chinesischen Medizin nicht kann. Komplementäre Verfahren alleine als Krebsmittel einzusetzen wäre für die Patienten in der Summe verheerend. Aber sie können eine wichtige Hilfe sein, etwa bei der deutlichen Linderung der Chemo-Nebenwirkungen durch spezielle Akupunkturverfahren oder durch geschulten Einsatz der Heilkräuter. Das zeigen unsere Arbeiten seit gut 20 Jahren. Auch Heilübungen kommen in Frage, die darauf abzielen, emotional den Kopf freizuhalten und dabei das Immunsystem zu stärken."

Greten sieht dabei durchaus die mangelnde Wissenschaftlichkeit vieler Therapieverfahren als Defizit. Das, was bewiesen sei, habe immer Vorrang vor den ergänzenden Methoden, so der Vertreter einer integrativen Krebsmedizin. Greten fordert deshalb mehr Mittel für Studien, die den Nutzen dieser Therapien belegen. Dies sei vor allem dann wichtig, wenn es um nicht-patentierbare Mittel wie Vitamin C oder in der Natur vorkommende Moleküle geht. Sie können von der Pharmaindustrie aufgrund fehlender Wirtschaftlichkeit nicht gefördert werden - ein großer Verlust für die Patienten.

Greten: "Der Wunsch, den wir alle haben, ist, dass die Freiheit der Wissenschaft auch finanziell ermöglicht wird. Gerade Heidelberg hat das Potenzial zu dem Platz in Europa zu werden, an dem beim Thema Krebs eine pragmatische Philosophie der Offenheit, Prüfung und Integration des Sinnvollen gelebt wird".

Unterdessen kämpft Krebspatient Thorsten Brahms weiter seinen Kampf gegen den Krebs. Seine Therapie-Unsicherheit und die Informationsodyssee sind beendet. Er hat sich entschieden: Chemotherapie im NCT und Begleittherapie auf Basis chinesischer Medizin durch die Heidelberger Ärzte. Sein größter Wunsch ist die Heilung und mehr Informations-Gerechtigkeit: "Wir leben im Internet-Zeitalter. Das Informationsinteresse nach neuen Therapiemöglichkeiten ist nicht mehr zu stoppen. Alle Krebspatienten in Deutschland brauchen den gleichen Zugang zu seriösen Informationen über ihre Behandlungsmöglichkeiten. Immer mit dem Pro und Contra einer Therapie. Komplementär und schulmedizinisch. Am besten an einer unabhängigen Stelle im NCT".

Quelle: Kristian Kropp / Rhein-Neckar-Zeitung

Dieser Artikel erschien am 08.06.2018 in der Rhein-Neckar-Zeitung und wurde nach Freigabe des Autors auf rpr1.de veröffentlicht.