Florian Wirtz zog die lila Kapuze wie einige Kollegen tief ins Gesicht. Auch Bundestrainer Julian Nagelsmann schützte sich lieber vor dem kalten Nass von oben. Robert Andrich aber, der warf seine Regenjacke einfach zur Seite. Im Thüringer Schmuddelwetter demonstrierte der Leverkusener Double-Sieger gleich bei seiner ersten Trainingseinheit für die Europameisterschaft, dass das Klischee vom unerschrockenen «Worker» nicht zu erschüttern ist.
Nur auf einen weiteren Spitznamen hatte der kompromisslose Fußball-Arbeiter vor dem Besuch der SEK-Einheit im Trainingslager der Nationalmannschaft überhaupt keine Lust. «Spezialeinsatzkommando», für die EM? «Direkt würde ich mich nicht so betiteln», sagte der 29-Jährige. Vereinskollege Jonathan Tah neben ihm schmunzelte, denn der Vergleich passt eben doch einfach gut.
Andrich wurde von Nagelsmann für Krisensituationen ausgewählt. Er soll neben seinem Kumpel Toni Kroos abräumen, wenn es brenzlig wird. Fußballtechnisch versteht sich. Und nicht in wirklichen Notlagen wie die Polizei-Experten, die in Blankenhain die Nationalspieler darin schulten, als Kollektiv für schwierige Situationen auf dem Platz bei der EM gewappnet zu sein.
«Eine SEK-Mannschaft muss perfekt funktionieren. Sie muss in allen Situationen Lösungen haben, sich gegenseitig unterstützen, sie ist im Thema Kommunikation ganz weit vorne. Ich denke, da gibt es sehr viele Elemente, die uns die Damen und Herren beibringen können», erklärte der Bundestrainer die Idee des Teampsychologen Hans-Dieter Hermann für den Schulungsnachmittag.
Müller braucht keine Klangschalen
Thomas Müller, der Hermann seit seinen ersten Tagen bei der Nationalmannschaft vor mittlerweile 14 Jahren kennt, und einige besondere Maßnahmen schon mitgemacht hat, fand die Aktion richtig gut. «Es geht mir gar nicht um irgendeinen motivierenden Faktor oder um irgendeinen mentalen Faktor, dass man da Klangschalentherapie macht und danach geht es allen gut. Sondern es geht darum, funktionierende Verhaltensweisen sich anzuschauen und vielleicht eben das eine oder andere auf der Sachebene zu lernen», sagte der 34-Jährige.
Müller mag sich auch erinnern. Nagelsmanns Vor-Vorgänger Joachim Löw hatte auf dem Weg zum WM-Triumph in Brasilien 2014 einige Spieler als «Spezialkräfte» tituliert. Der aktuelle Bundestrainer nannte den SEK-Schulungseinsatz im DFB-Quartier einen «ganz wichtigen Programmpunkt» auf dem Weg zum Heimturnier, bei dem jeder Spieler für den Titelgewinn 400.000 Euro als Prämie kassieren würde, wie der DFB auf dpa-Anfrage bestätigte. Bei einem frühen Aus wie zuletzt in Katar gibt es hingegen wieder nichts.
Kühlen Kopf bei Grenzsituationen
«Sich gegenseitig zu schützen, füreinander da zu sein, auch in Grenzsituationen immer einen kühlen Kopf zu haben, Lösungen zu finden. Das ist was für die Mannschaft», sagte der 36-jährige Nagelsmann, der bei dem Teambuilding-Event im Golfhotel Weimarer Land selbst deshalb nicht dabei sein wollte.
Automatismen ließ Nagelsmann auch auf dem Trainingsplatz einstudieren - unter erschwerten Bedingungen. So kräftig prasselte der Regen hernieder, dass sich Andrich von dem meteorologischen Tiefdruckgebiet ein wenig verfolgt fühlte. «Wir sind aus dem Regen losgeflogen und in den Regen rein», sagte er. Standards, ein möglicherweise entscheidender EM-Faktor, standen auf dem Programm. Und immerhin hatte der Bundestrainer nach der Ankunft des Bayer-Trios und von Kapitän Ilkay Gündogan erstmals 24 Spieler auf dem Platz.
Auch Torwart Manuel Neuer konnte nach überstandenem Magen-Darm-Infekt die Vorbereitung auf sein DFB-Comeback am Montag im EM-Test gegen die Ukraine in Nürnberg auf dem Platz aufnehmen. Schwerstarbeit musste die Nummer eins danach gemeinsam mit DFB-Neuling Maximilian Beier auf einem Supermarkt-Parkplatz in Blankenhain leisten. Hunderte Fans waren dort zu einer Autogrammstunde gekommen. Sogar ein Baby wurde Neuer über die Absperrung gereicht, damit er seinen Namenszug auf den Strampler setzte.
Selbstaufladende Akkus
Mit Fußball-Euphorie kennen sich Andrich, Tah und Wirtz gut aus. Das Trio vom Double-Sieger Bayer Leverkusen kommt im Siegerflow nach Blankenhain und sorgt im DFB-Zirkel für die Stimmung, die ein Team über ein Turnier tragen kann. «Ich würde lügen, wenn es einem nicht ein gutes Gefühl gibt. Man kommt definitiv mit viel Selbstvertrauen an und mit der Gier, dass man weiter erfolgreich sein möchte», sagte Tah. Die Akkus würden sich nach der langen Saison und den Titelfeiern «von alleine wieder aufladen». Auch im Dauerregen.
Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa
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