Die deutsche Nationalmannschaft um Jonathan Tah, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan und Florian Wirtz (l-r) lieferte in Lyon ab.
Christian Charisius/dpa
Die deutsche Nationalmannschaft um Jonathan Tah, Joshua Kimmich, Ilkay Gündogan und Florian Wirtz (l-r) lieferte in Lyon ab.
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Nagelsmann setzt den EM-Blinker: Nach Coup gegen Oranje

«Eine Ohrfeige.» So schmerzhaft empfinden die Franzosen den deutschen Spaß-Fußball in Lyon. Der Bundestrainer reibt sich aus Freude die Hände. Jetzt soll gleich das nächste EM-Signal folgen.

Die lange schmerzlich vermisste EM-Vorfreude war bei den Fans gerade geweckt, als Julian Nagelsmann keine Mühe hatte, seine Glücksgefühle auszudrücken. Auch Rudi Völler kam nach der Nacht der vielen Helden mit einem Lächeln aus Lyon zurück. «Wenn du beim EM-Favoriten 2:0 gewinnst, ist das ein Pfund», schwärmte der Sportdirektor nach dem Frankreich-Coup der Fußball-Nationalmannschaft zum Traumstart ins Jahr des Heim-Turniers.

Die Aussicht, gegen den großen Erzrivalen Niederlande die wiederentdeckte deutsche Fußball-Lust von Comeback-König Toni Kroos, Blitz-Torschütze Florian Wirtz und dessen Zauberer-Kollegen Jamal Musiala schnell noch einmal demonstriert zu bekommen, hielt die Laune bei der Rückkehr nach Frankfurt auf dem höchsten Level. «Das war genau das Spiel, auf das wir gewartet haben. Jetzt müssen wir am Dienstag nochmal nachziehen», forderte Völler.

Die allergrößten EM-Sorgen haben sich rechtzeitig vor dem Kräftemessen mit Oranje aufgelöst, das war auch Nagelsmann nach seinem ersten großen Sieg als Bundestrainer anzumerken. «Losgelöst von dem Gegner, geht es erstmal um die Art und Weise. Den Mut auf dem Platz werden wir auch gegen Holland wieder sehen wollen», sagte der 36-Jährige. Ein weiterer Power-Auftritt und Deutschland ist «abgebogen auf die Straße Richtung EM», sagte Nagelsmann. Den Blinker hat er schon mal überdeutlich gesetzt.

Erleichterung? Genugtuung sogar, nach viel Kritik und noch mehr Zweifeln? Nein. Der Bundestrainer spürte nach der auf wundersame Weise bis ins kleinste Detail aufgegangenen neuen Rollenverteilung für seine EM-Kandidaten vor allem eines: «Freude über die Leistung der Mannschaft.»

Königlicher Schachzug mit Kroos

Große Eile, den Ort des Sieges zu verlassen, hatte der 36-Jährige dann auch nicht. Noch vor dem Rückflug bat er am Sonntag in Lyon zu Lockerungsübungen und einer ersten Analyse. Die wichtigsten Erkenntnisse: Das Kroos-Comeback war ein königlicher Schachzug. Joshua Kimmich ist hinten rechts bestens aufgehoben, sogar gegen einen Turbo-Stürmer wie Kylian Mbappé. Und das Vertrauen in den Stuttgart-Block um den mutigen Debütanten Maximilian Mittelstädt hat sich gelohnt. Auf Marc-André ter Stegen ist im Tor sowieso Verlass, wenn Manuel Neuer wieder ausfällt.

Plötzlich gibt es keine erkennbare Baustelle mehr in der DFB-Elf, die noch im November beim 0:2 in Österreich nur Schlagloch-Fußball zeigte. «Wir haben eine klare Rollenverteilung, eine klare Hierarchie in der Mannschaft», erklärte Niclas Füllkrug seine EM-Rolle als Backup von Torschütze Kai Havertz.

Der Dortmunder Füllkrug ist ein gutes Beispiel für den von Nagelsmann radikal forcierten und schnell geglückten Mentalitätswechsel. Sein BVB-Kollege Mats Hummels oder Bayern-Profi Leon Goretzka müssen sich nach ihrer März-Ausmusterung hingegen in der Heimat als Verlierer fühlen. Für die EM werden sie Stand jetzt nicht gebraucht.

Das Lieblingswort heißt Spaß

Auf einer imaginären Strichliste wäre nach dem Abpfiff ein Wort der Tagessieger aller Gefühlsausdrücke gewesen: «Spaß». «Sie sollen machen, was Spaß macht», sagte Nagelsmann über seine simple Anforderung an die Spieler. «Als Mannschaft haben wir richtig Spaß gehabt», sagte Musiala. «Nach ein paar Sekunden hat es schon unglaublichen Spaß gemacht», sagte Völler und sprach dabei vom Acht-Sekunden-Rekordtor von Wirtz.

Schneller hat noch niemand ein deutsches Länderspiel-Tor erzielt als der junge Leverkusener. Schneller hätten auch die Risiko-Maßnahmen von Nagelsmann keine drei Monate vor der Heim-EM nicht fruchten können. «Es wurde ja einiges geändert. Das war ein bisschen die Frage, ob die Veränderung so schnell Früchte tragen kann», gestand Kroos.

Der Superstar von Real Madrid erfüllte mit seiner souveränen Art alle Erwartungen. «Toni macht das Spiel für dich ganz einfach. Er kann gut zocken», fasste Musiala die Lobpreisungen von allen Seiten für den 34-Jährigen in zwei kurzen Sätzen zusammen.

Einfach zocken. Das könnte auch so ein Nagelsmann-Slogan sein. Für Frankreich und den nun folgenden Holland-Test hat der Bundestrainer bekanntlich das Motto «Wir kicken» gewählt. Dass dies mit der Betonung auf dem Wir gegen den verblüfften WM-Zweiten aus dem Stand hervorragend funktionierte, war die besondere Note eines denkwürdigen Fußball-Abends. «Wir waren nicht in der Lage, uns an das Level unseres Gegners anzupassen», sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps. «Sie waren sehr aggressiv, sehr fokussiert, sie haben ein sehr gutes Spiel gemacht.»

Frankreich spürt eine «Ohrfeige»

Frankreichs Medien schrieben einhellig von einer «Ohrfeige», die Deutschland der Équipe Tricolore verpasst habe. «Das Lustige ist, dass es noch besser hätte sein können», beschrieb DFB-Kapitän Ilkay Gündogan die deutsche Überlegenheit.

Das alles kann sich Nagelsmann als Komplimente gutschreiben. Begleitet von den Störgeräuschen des für viele zu bunten EM-Trikots, der Hysterie um den Ausrüster-Deal mit Nike und der selbst entfachten Vertragsdebatte für die Zeit nach der EM schaffte er es dem von ihm auserkorenen Personal im Eiltempo eine erstaunliche Handlungssicherheit zu geben. In Krisenzeiten muss eben jeder wissen, was er tun muss. Dann kann auch Fußball wieder leicht(er) fallen. Das war ein klarer Kontrastpunkt zum langen Fußball-Leiden unter Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick.

Ein besseres deutsches Länderspiel? Oder zumindest eines auf diesem spielerischen und taktischem Niveau gegen einen großen Gegner? Da musste schon weit zurückgeblättert werden in den Ergebnislisten. Vielleicht bis zum im Elfmeterschießen gewonnene EM-Viertelfinale 2016 gegen Italien, zu den noch euphorischen Zeiten unter Weltmeister-Trainer Joachim Löw - und damals auch in Frankreich.

Von Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa
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