Energie durch Erlösung: Nagelsmann muss zur Nachtschicht
War das der besondere EM-Moment? Für die K.o.-Runde fühlen sich Topjoker Füllkrug und Topstratege Kroos gewappnet. Der Bundestrainer spürt eine besondere Energie, bangt aber um seine Abwehr.
War das der besondere EM-Moment? Für die K.o.-Runde fühlen sich Topjoker Füllkrug und Topstratege Kroos gewappnet. Der Bundestrainer spürt eine besondere Energie, bangt aber um seine Abwehr.
Der Last-Minute-Gruppensieg war gerade geschafft, da berichtete Julian Nagelsmann von einem bislang nicht bekannten EM-Problem - und er meinte damit nicht den drohenden Ausfall seiner kompletten Innenverteidigung. Mehr als Harry Kane und dessen Engländer als möglicher erster K.o.-Gegner der Fußball-Nationalmannschaft fürchtet Julian Nagelsmann nämlich einen großen Schwarm lästiger Insekten. Der könnte bei der Beobachtung der insgesamt noch vier Achtelfinal-Kandidaten im Teamquartier in Herzogenaurach am späten Dienstagabend den 36-Jährigen zum Umdenken zwingen.
«Wir haben immer draußen einen großen Screen laufen, wo viele der Spieler die Spiele schauen. Wir haben allerdings eine abartige Mückenplage, da müssen wir mal gucken, ob ein bisschen Wind geht. Ansonsten gehen wir ins Büro und schauen es uns an», erzählte der 36-Jährige von seinen TV-Plänen.
Widrigkeiten standhalten, mit einer Ersatzstrategie die Dinge zum Guten wenden. Das war neben der Problematik mit den kleinen fränkischen Blutsaugern in tatsächlich maßgeblicher Weise das Thema für den Bundestrainer nach dem 1:1 gegen die Schweiz und der «Energie-Explosion» durch das späte Ausgleichstor von Super-Joker Niclas Füllkrug.
Fragezeichen hinter Rüdiger
Als Risiko-Signal kam am Montag die Oberschenkelzerrung von Antonio Rüdiger als Diagnose hinzu. Fällt nach dem gelb-gesperrten Jonathan Tah auch der zweite Innenverteidiger aus, muss Nagelsmann in der Defensivzentrale komplett neu aufstellen. Nico Schlotterbeck und Waldemar Anton müssten als Backups einspringen - ein mögliches Vabanque-Spiel droht.
Die Signale, die Nagelsmann ansonsten aus seiner Mannschaft bekommt, können den Bundestrainer hingegen zuversichtlich stimmen, dass auch im ersten Alles-oder-Nichts-Spiel am Samstag (21.00 Uhr) im pickpackevollen Dortmunder Fußball-Tempel die Mechanismen greifen. Wer immer auch als Gegner kommt: England, Dänemark, Slowenien oder Serbien. «Wir haben zum wiederholten Mal gezeigt, dass wir mit einem Rückstand umgehen können, dass wir an uns glauben bis zum Ende. Das hilft der Mannschaft», sagte Toni Kroos.
Der sechsmalige Königsklassensieger weiß aber genau, was jetzt gefragt ist. Sonst endet seine große Karriere drei Spiele zu früh im EM-Achtelfinale. «Jetzt kommen die Spiele, in denen wir variabel sein müssen, in denen wir auf verschiedene Spielstände reagieren müssen», forderte der 34-Jährige. Wie gegen die Schweiz. Wie Nagelsmann versichert Kroos: «Ich glaube, dass wir gewappnet sind.»
Erlösung bringt Energie
Der Bundestrainer hält viel von Turnier-Psychologie. Ein 4:0 gegen die Eidgenossen wäre schön gewesen. Aber dieser magische Füllkrug-Moment zum verdienten und dennoch glücklichen Ausgleich hilft möglicherweise mehr, argumentierte Nagelsmann. Die Erinnerung an Oliver Neuvilles spätes Sommermärchen-Tor beim 1:0 gegen Polen 2006 kam dem Bundestrainer zwar nicht sofort in den Sinn, aber die Formel könnte die gleiche sein. Späte Erlösung = Große Energie. «Das kann schon ein Knackpunkt-Moment gewesen sein für uns als Team», sagte Füllkrug.
Nagelsmann hat einen speziellen Zug in seinem Team ausgemacht. «Das ist schon ein sehr besonderer Geist. Das ist etwas Besonderes, das viel auslösen kann», sagte er. Und es passt alles zusammen. Die potenziellen Störgeräusche haben sich erledigt. Ilkay Gündogan ist als Kapitän ein Anführer, kein Mitläufer. Torwart Manuel Neuer hält wieder wie eine Nummer eins. Und Füllkrug ist die Versicherung für alle Fälle - wie vorher ausgemalt.
Mit der Rückkehr ins Teamquartier ist Durchatmen angesagt. Als die DFB-Elf mitten in der Nacht wieder in Herzogenaurach eintraf, zogen die Spieler nur leise murmelnd ihre silbernen Rollkoffer ins Quartier. Joshua Kimmich hatte seinen schlafenden Sohn auf dem Arm. Auf dem von Nagelsmann erwähnten Riesenbildschirm stand auf trikot-pinkem Hintergrund: «Welcome Home».
Nachtschicht für Nagelsmann und Analysten
Am Montag stand das übliche Regenerationstraining an. Am Dienstag haben alle frei. Der Bundestrainer und seine Analysten müssen aber zur Nachtschicht. Der Spielplan erschwert die Achtelfinal-Vorbereitung. Videos müssen geschnitten, schon begonnene Analysen fertiggestellt werden. Schon am Mittwoch will Nagelsmann am für ihn wichtigsten Trainingstag seinen Spielern eine Taktik darlegen. «Die ganze Nacht» müssten seine Analysten Leonard Höhn und Frederik Hölscher also das Material vorbereiten, machte der Bundestrainer klar.
Nagelsmann muss Entscheidungen treffen. In der Stammelf ist durch die Gelb-Sperre von Tah mindestens eine Änderung fällig. Ist Rüdiger nicht fit sogar zwei. Schlotterbeck und Anton hätten einen Einsatz beide verdient, sagte Nagelsmann, als er die Rüdiger-Diagnose noch nicht kannte. «Wir haben Vertrauen in den ganzen Kader», sagte Nagelsmann.
Das Füllkrug-Paradox
Und vorne? Darf da nun Top-Torjäger Füllkrug ran? Immer langsam, mochte Nagelsmanns Antwort sinngemäß ausdrücken. Gerade Füllkrugs Joker-Stärke ist ein Argument gegen einen Startelf-Einsatz, für den Kai Havertz das Vertrauen des Bundestrainers nicht enttäuscht hat. Aber keiner kommt so explosiv von der Bank wie Füllkrug. Bei allen seinen fünf Turnierspielen bei der WM 2022 und der laufenden EM wurde er eingewechselt - und traf viermal. Es sei «Freude und Leid zugleich, dass er beides erfüllt», sagte Nagelsmann.
Das Füllkrug-Paradox ist das beste Beispiel für Nagelsmann schon wieder aufgegangene Personalstrategie. Flanke David Raum, Tor Füllkrug. Die Tor-Kombination von zwei Jokern verdeutlichte, dass der Bundestrainer mit seiner Rollenzuschreibung nicht nur ein stabiles Fundament für eine Startelf gelegt hat. Auch die Ersatzleute liefern fern von Frustration. «Deswegen haben wir es so gemacht», sagte Nagelsmann zur Konkurrenzsituation.
Von Arne Richter, Klaus Bergmann und Christoph Lother, dpa
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