Im Adrenalinrausch der von den Fans angestimmten «Völlig losgelöst»-Hymne spürte Julian Nagelsmann, dass er mit der Fußball-Nationalmannschaft bei der Heim-EM in die Gewinnzone vorgedrungen ist. Das 2:0 (0:0) im Achtelfinale gegen hartnäckige Dänen in einem für den Bundestrainer «skurrilen Spiel» war mehr als ein Sieg, der erwartet werden durfte.
Nach dem Dortmunder Regenmärchen kann das Turnier für den Gastgeber nicht mehr im großen Frust enden. Selbst wenn sich der Traum vom Finale am 14. Juli in Berlin und vom vierten EM-Titel nicht erfüllen sollte.
«Es war absolut kein leichtes Spiel», gestand Nagelsmann angesichts der außergewöhnlichen Begleiterscheinungen mit der Unwetter-Unterbrechung, aberkannten Toren, nervenaufreibenden Videobeweisen und dem Matchglück in den entscheidenden Momenten wie beim von Kai Havertz mit Eiseskälte verwandelten Handelfmeter.
Erstmals seit 2016 wieder ein K.-o.-Spiel gewonnen
«So ein Spiel mit den Widerständen, die auch viel mit der Psyche der Spieler machen, zu gewinnen, und das auch noch als Favorit, macht mich schon stolz», sagte Nagelsmann. Die Erleichterung war fühl- und sichtbar, gerade auch bei den vielen Umarmungen von DFB-Sportdirektor Rudi Völler am Spielfeldrand. Erstmals seit der EM 2016 hat die Nationalelf bei einem großen Turnier wieder ein K.-o.-Spiel gewonnen und damit die bösen Geister der WM-Flops 2018 und 2022 sowie der EM 2021 verscheucht.
«Das haben sie sich auch verdient, dass sie langsam hoffentlich die alte Festplatte gelöscht kriegen und verstehen, wie gut sie eigentlich sind», sagte Nagelsmann. «Das Rattern in den Köpfen», wenn mal etwa schieflaufe, verschwinde langsam. Der Druck wird jetzt positiv.
Tief in der Nacht kehrte der DFB-Tross zurück ins Herzogenauracher EM-Camp. Trainer, Spieler, Betreuer - alle freuten sich auf einen Tag des Erfolgsgenusses mit den Familien, an dessen Ende das große Warten auf den Viertelfinalgegner stehen sollte. «Spanien, Georgien, ich hätte Bock auf beide», verkündete Kapitän Ilkay Gündogan vor der Auflösung der Gegnerfrage am späten Sonntagabend.
«Brauchen uns vor niemandem zu verstecken»
Deutschland hat wieder eine Turniermannschaft. Und nach acht Länderspielen ohne Niederlage ist der Glaube da, im Verbund mit den Fans, die ihre Nationalmannschaft wieder ins Herz geschlossen haben, auch die größten Europameisterprüfungen meistern zu können. «Ich habe niemanden gehört, der gesagt hat, wir müssen das Achtelfinale erreichen. Bei einem Turnier im eigenen Land trittst du immer an, um zu gewinnen, wenn du die Qualität hast, wie wir sie haben», tönte der Volkstribun Niclas Füllkrug: «Wir brauchen uns vor niemanden zu verstecken!»
Jedes Spiel dürfte ein Kraftakt bleiben. Gegen die Dänen war es eine mitreißende emotionale Achterbahnfahrt. «Es war ein wildes Spiel. Die ersten 20 Minuten waren die besten von uns im Turnier», sagte Nagelsmann. Was für eine Dramaturgie. «Die Gewitterunterbrechung, das vermeintliche Gegentor, dann der Handelfmeter für uns, bei dem ich verstehen kann, dass sich die Dänen aufregen», schilderte Nagelsmann die Schlüsselmomente. Er dankte auch den Zuschauern: «Das Stadion hatte ein Supergespür und hat uns gepusht.»
Abwehr gewinnt Turniere? «Ja, das stimmt»
Der 36-Jährige selbst hat es vermocht, lähmenden Druck in Energie umzuwandeln: «Es ist ein Privileg, Spiele unter diesem Druck spielen zu dürfen. Wir wollen so weitermachen.» Der Teamgeist stimmt, und daraus erwächst ein positives Leistungsklima. «Jeder respektiert im Team seinen Job, jeder kämpft für den anderen», sagte der emotionale Anführer und Abwehrchef Antonio Rüdiger, der als Spieler des Spiels ausgezeichnet wurde.
Die Abwehr ist plötzlich kein Risiko mehr, sondern ein Erfolgsfaktor. «Kompliment an unsere Verteidiger, das haben sie wirklich stark gemacht», sagte Torwart Manuel Neuer. Beim WM-Triumph vor zehn Jahren in Brasilien galt eine Fußball-Weisheit, die auch am Samstagabend Thema war. Eine starke Abwehr gewinnt Turniere? «Ja, das stimmt», antwortete Neuer.
Im vierten Turnierspiel zeigte sich, dass Nagelsmann mit seinem als Fan-Einpeitscher auffallenden Assistenten Sandro Wagner einen stimmigen EM-Kader gebastelt hat. Erstmals veränderten sie die Startelf, brachten neben Nico Schlotterbeck, der den gesperrten Jonathan Tah herausragend gut ersetzte, auch noch Leroy Sané und David Raum von Beginn an. «Mit Ausnahme von Robin Koch hatte jetzt jeder (Feldspieler) einen Einsatz», hob Nagelsmann extra hervor. Der Kampf um die Startplätze ist in Bewegung geraten.
Erst Havertz, dann Musiala
Auch wenn die offensive Effizienz gegen Dänemark nicht titelreif war, verfügt das Team über Spieler, die den Unterschied ausmachen können. Wie Havertz, der den Elfer verwandelt, nachdem er zuvor einige Chancen ausgelassen hatte. Oder Jamal Musiala, der nach einem Weltklasse-Ball von Schlotterbeck aus der eigenen Hälfte das 2:0 erzielt hatte und schon jetzt mit drei Turniertreffern zu den prägenden Figuren dieses EM-Festes zählt.
«Wir hatten Chancen, wo wir das Spiel einfacher machen können. Das Gute ist, dass wir Chancen kreieren. An anderen Tagen gehen die rein», sagte Musiala. Ein Joker-Treffer von Füllkrug war diesmal nicht nötig. «Die Konkurrenz ist immer da im Fußball, wir sind aber faire Fighter», sagte Havertz zum Ringen um die Plätze, ob vorne oder hinten.
Erst nach einem trainingsfreien Montag wird Nagelsmann den Viertelfinal-Countdown starten. Joshua Kimmich zog schon mal den Publikums-Joker. «Die Fans waren extrem da», lobte er nach seinem 90. Länderspiel die bislang «mit Abstand beste Stimmung» in Dortmund. Das dürfte gerne am Freitag (18.00 Uhr) in Stuttgart noch getoppt werden, sagte Kimmich.
Von Klaus Bergmann, Arne Richter, Thomas Eßer und Heinz Büse, dpa
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