Mit mahnenden Worten haben rheinland-pfälzische Politiker bei der zentralen Veranstaltung zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zum Einstehen für Demokratie und zu einer klaren Haltung gegen Extremisten aufgefordert und ermuntert. «Es ist jetzt an der Zeit, das Schweigen zu beenden und laut zu werden», sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Katharina Binz von den Grünen am Samstag im Plenarsaal des Landtages in Mainz. Es gelte, sich antidemokratischen, rassistischen und intoleranten Kräften entgegenzustellen, die freiheitliche Grundwerte unterwandern wollten.
Landtagspräsident Hendrik Hering betonte, dass «millionenfache Sterben» in der Zeit des Nationalsozialismus hätte verhindert werden können. Der Blick zurück sei schmerzhaft und erinnere daran, dass es nicht irgendjemand anderes gewesen sei, der diese unvergleichbaren Verbrechen begangen habe. «Es war nicht «irgendjemand anderes», es war nicht «irgendein Unheil», das von außen über Deutschland kam und das mit unseren Vorfahren nichts zu tun hatte», sagte Hering.
Auch er richtete den Blick in die Gegenwart: «In Worten und Haltungen sehen wir heute mit erschreckender Klarheit die Parallelen zwischen den Nationalsozialisten von damals und Rechtsextremisten von heute.» Das lasse erahnen, wie schnell demokratische Errungenschaften, die für gefestigt gehalten würden, verloren gehen könnten. «Wenn wir dieser Tage lesen müssen, dass sich heute in Deutschland wieder Menschen treffen - unter ihnen Mandatsträger - um die Vertreibung und Deportation von Millionen Menschen zu planen, sehen wir: das Gift der Nazis war nie weg, das Unsagbare ist wieder sagbar geworden.»
Im Mittelpunkt der zentralen Gedenkveranstaltung des Landes Rheinland-Pfalz zum 27. Januar, an dem an die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen im Jahr 1945 erinnert wird, stand diesmal eine lange nicht wahrgenommene oder verleugnete Opfergruppe, die von Nationalsozialisten als «asozial» oder als «Berufsverbrecher» bezeichnet und verfolgt wurden, etwa Arbeits- und Wohnungslose, Bettler, Fürsorgeempfängerinnen und -empfänger oder Prostituierte.
Der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher, selbst Zeitzeuge der zweiten Generation und Gründer eines Verbands von Angehörigen der von den Nationalsozialisten sozialrassistisch verfolgten Menschen, nannte diese Ausrichtung eine «einmalige Geschichte» und sagte im Landtag: «Ich hoffe, dass das Schule macht.»
Nonnenmacher berichtete vom Schicksal eines Onkels und eines Halbbruders. Binz, die auch rheinland-pfälzische Integrationsministerin ist, sagte, es sei maßgeblich Nonnenmacher und seinen Mitstreitern zu verdanken, dass die Verbrechen an diesen Opfergruppen und deren Leidtragende offiziell anerkannt worden seien. Landtagspräsident Hering erinnerte daran, dass diese Anerkennung durch den Deutschen Bundestag erst 2020 erfolgt sei. Das sei spät gewesen. «Wichtig ist umso mehr, dass es kein Anfang bleibt, sondern Anschub wird für Erinnerung und Aufklärung.»
Ein weiterer Zeitzeuge der zweiten Generation, der ans Rednerpult trat, war Alfons Ludwig Ims. Er ist Verfasser eines Buches namens «Meine asoziale Pfälzer Familie». In bewegenden Worten schilderte er am Samstag Teile seiner Familiengeschichte, wie Familienmitglieder in der Zeit der Nationalsozialisten in sogenannte Fürsorgeeinrichtungen kamen, die erste Frau seines Vaters zwangssterilisiert wurde und eine Schwester als «angeboren schwachsinnig» stigmatisiert wurde.
Nationalistische und rassistische Ausprägungen würden wieder stärker, nicht nur in Deutschland, sagte Ims. «Antidemokraten» würden wieder in Parlamente gewählt. Binz forderte dazu auf, Position zu beziehen, den Mund aufzumachen, wenn Stereotype bedient und verächtlich über Minderheiten gehetzt werde - «auf dem Schulhof, im Sportverein, bei der Familienfeier, in der Kneipe oder der WhatsApp-Gruppe».
Von Christian Schultz, dpa
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