Die sichtbare Anspannung der ersten Kriegstage ist von Wladimir Putin nach fast zwei Jahren seiner blutigen Invasion in der Ukraine abgefallen. Über die Zehntausenden Toten seines Feldzugs schweigt der Kremlchef.
Und längst hat der 71-Jährige seinen Überfall auf das Nachbarland zu einem Krieg gegen den Westen und gegen die Nato umgedeutet. Mit seinem «Kampf gegen den äußeren Feind» hat er viele Russen auf seine Seite gezogen. 2024 will Putin, der seit fast einem Vierteljahrhundert an der Macht ist, für sich zum Jahr des Triumphes machen.
«Der Frieden wird kommen, wenn wir unsere Ziele erreicht haben», sagte Putin selbstsicher bei seiner großen Jahrespressekonferenz im Dezember. Ein Sieg für ihn wäre etwa der Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt. Nach vielen Niederlagen im ersten Kriegsjahr sieht Putin die Initiative nun wieder bei seiner Armee. Moskau meldet Eroberungen im Donbass - und frohlockt, dass die Hilfe des Westens weiter bröckelt und der Ukraine die Soldaten ausgehen.
Die Pläne des Westens seien fehlgeschlagen, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen oder das Land auf der Weltbühne zu isolieren, tönte Putin unlängst. Selbstbewusst wirbt der Kremlchef, dem Kritiker einen zunehmend totalitären Kurs vorwerfen, für eine neue Weltordnung, die aus seiner Sicht bereits entsteht.
Sanktionen konnten Putins Kriegswirtschaft nicht stoppen
Eine neue multipolare Welt - ohne Vormachtstellung der USA - will Putin erreichen. Dabei ist seine eigene Reisefreiheit begrenzt, weil der Internationale Strafgerichtshof gegen ihn wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl erlassen hat. Aber der Kremlchef kommt als Erbauer eines neuen starken Russlands, das sich selbst genug ist und bisweilen mit seinen Atomwaffen droht, bei vielen Menschen im Land an.
Selbst westliche Experten räumen ein, dass Moskau dem Druck der Sanktionen der EU, der USA und anderer Staaten bisher besser standgehalten habe als von vielen erwartet. Eigentlich sollten die Strafmaßnahmen Putin den wirtschaftlichen Boden für die Invasion entziehen. Doch die Rohstoffgroßmacht hält mit den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft mit China und Indien seine Kriegswirtschaft am Laufen. Nicht wenige Staaten helfen Russland zudem dabei, Sanktionen zu umgehen und begehrte Waren doch in das Land zu bekommen.
Russland kann auf ein Wirtschaftswachstum von über drei Prozent in diesem Jahr verweisen. Auch wenn Ökonomen kritisieren, es handele sich nur um künstliche Ergebnisse einer hochtourigen Kriegswirtschaft, die Staatsvermögen verbrennt - Putin kann positive Nachrichten verkünden. Doch gesund ist das Wachstum nach Experteneinschätzung nicht. Zudem haben viele westliche Firmen das Land verlassen.
Experte sieht «zerbrechliche Stabilität»
Der russische Experte der US-Denkfabrik Carnegie, Andrej Kolesnikow, sieht insgesamt eine «zerbrechliche Stabilität» im Land. Niedriger Arbeitslosigkeit steht ein extremer Fachkräftemangel gegenüber - viele Männer müssen im Krieg kämpfen oder sind aus Angst vor einem Fronteinsatz mit ihren Familien ins Ausland geflohen. Lohn- und Rentenerhöhungen verpufften vielfach an den gestiegenen Preisen der Lebenshaltung. Weil viele begehrte Waren für harte westliche Währung eingekauft werden müssen, ist der Wert des Rubel zudem anhaltend schwach. Die Kaufkraft sinkt ständig.
Viele Russen beklagen Armut, Angst und Perspektivlosigkeit. Trotz allem, das zeigen Umfragen, trauen die meisten Menschen vor allem Putin zu, die vielen Probleme zu lösen. Der Präsident hatte 2020 eigens die Verfassung ändern lassen, um weiter bei Wahlen antreten zu können. Sechs Jahre beträgt die Amtszeit. Er könnte 2030 wieder antreten - und dann bis 2036 regieren.
Als früherer Geheimdienstchef gilt Putin als Meister der Verklärung. Er betont, Russland stärke heute seine Verteidigungskraft und damit die eigene Souveränität - nachdem die «militärische Spezialoperation», wie Putin seinen Krieg meist nennt, Schwächen offengelegt habe.
Krieg und Angst als Mittel des Machterhalts
Putins Zustimmungswerte sind derzeit deutlich höher als noch vor dem Krieg, als viele Menschen Stagnation beklagten. «Das Grundmotiv, die Spezialoperation zu beginnen, war der Machterhalt», sagt Kolesnikow. Dabei hätte der Kremlchef seinen Worten nach mit dem System aus Angst und Autoritarismus auch ohne die Invasion die Wahl für sich entscheiden können.
Zur Präsidentenwahl am 17. März ist niemand in Sicht, der dem Kremlchef gefährlich werden könnte. Das politische Feld ist geräumt. Echte Gegner werden zum Urnengang gar nicht zugelassen. Kein Beispiel zeigt das so gut wie der Kremlkritiker Alexej Nawalny. Putin hat seinen Gegner in das wegen seiner rauen Haftbedingungen berüchtigte Straflager «Polarwolf» in Nordsibirien - mehr als 2000 Kilometer vom Machtzentrum entfernt - einsperren lassen.
Dennoch will Nawalny, der 2020 Putin für einen Mordanschlag mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok auf ihn verantwortlich machte, nicht aufgeben. Er ruft zum Kampf gegen den Machtapparat auf, der von mafiösen und korrupten Strukturen geprägt sei und auf Repressionen fuße. Nawalnys Team, das massive Wahlfälschung erwartet, startete dazu die Kampagne «Russland ohne Putin». Die Wähler sind aufgerufen, für jeden beliebigen Kandidaten zu stimmen - nur nicht für Putin.
Wahl ohne Konkurrenz - als Volksabstimmung für Putin
Die Erfolgsaussichten dieser Protestwahl dürften gering sein. Zum einen schwören einige Kandidaten selbst schon Putin offen die Treue. Zum anderen verzichtet diesmal zum Entsetzen vieler prowestlicher Russen etwa der Gründer der liberalen Oppositionspartei Jabloko, Grigori Jawlinski, auf eine Kandidatur. Er ist einer der wenigen prominenten Oppositionellen, die noch in Freiheit sind, Putins Krieg offen kritisieren und zum Waffenstillstand aufrufen.
«Es ist sinnlos, Statist in diesem Zirkus zu sein», sagt Jawlinski zu seiner Entscheidung. «Es gibt ein System der Angst, die Menschen fürchten doch schon vor der Wahl, ihre Personalien allein bei der Sammlung von Unterstützungsunterschriften preiszugeben. Das ist keine Wahl, sondern eine Volksabstimmung über Putin.»
Zwar gibt es auch in Russland Kriegsmüdigkeit. Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada erfasst in Umfragen den wachsenden Wunsch nach Friedensverhandlungen. In Sicht ist das aber nicht. Verbreitet ist vielmehr die Befürchtung, dass Putin - beflügelt durch ein hohes Ergebnis bei der Abstimmung - den Einsatz in seinem Krieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich erhöht - auch mit einer unpopulären weiteren Mobilmachung.
Kreml erwartet eine Kapitulation Kiews im Krieg
Verhandlungen mit der Ukraine, das machte der Kreml immer wieder deutlich, gibt es nur zu Russlands Bedingungen. Dies würde auf eine Kapitulation Kiews hinauslaufen. Putin gibt offen zu, es gehe ihm um die Sammlung historischer russischer Gebiete - um den Schutz der russischen Sprache und Kultur. Vor Militärs zum Jahresende betonte er zudem, er habe kein Interesse am Westen der Ukraine, den früheren polnischen Gebieten, die einst Sowjetdiktator Josef Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg Kiew zugeschlagen habe.
Allerdings sprach Putin zuletzt immer wieder davon, dass etwa die Schwarzmeermetropole Odessa im Süden der Ukraine eine «russische Stadt» sei. Russland interessiere dort nur «seine» früheren Gebiete, meinte Putin. Russland, erklärte Putin, sei lange Zeit Garant gewesen für die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Wegen deren Strebens in die Nato und des antirussischen Nationalismus in Kiews Führung sei das aber ein für alle Mal vorbei.
Nach Phase der Schwäche und Niederlagen Putin mit neuer Stärke
Zum Jahreswechsel häuften sich die Bilanzen zu Putins Dauerherrschaft - im August nächsten Jahres wird es 25 Jahre her sein, dass er als Regierungschef unter dem geschwächten Präsidenten Boris Jelzin die Macht und wenig später selbst im Kreml dessen Posten übernahm. Der überwiegende Tenor ist, dass sich Putin nach einer Phase der Schwäche durch die militärischen Niederlagen inzwischen wieder gefangen und zu neuer Stärke gefunden habe.
Nach dem gescheiterten Aufstand der Privatarmee Wagner gegen Moskaus Militärführung und dem tödlichen Flugzeugabsturz des im Kreml in Ungnade gefallenen Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin ist weitgehend Ruhe eingekehrt im Land. Die Politologin Tatjana Stanowaja bemerkte, dass Putin in seiner Jahrespressekonferenz diesmal gar keine großen Versprechen gegeben oder Wahlgeschenke verteilt habe. «Der russische Führer hat nicht das Gefühl, für die Sympathien des Volkes kämpfen zu müssen - das Volk steht auch so auf seiner Seite», sagte sie.
Andere sprechen von einem schon zu Sowjetzeiten unter der Knute des Kommunismus «gelernten Mitläufertum» der Russen, von dem Putin bis heute profitiere. Ein Kommentator der US-Zeitung «Wall Street Journal», deren Korrespondent Evan Gershkovich wegen angeblicher Spionage in Russland in Untersuchungshaft sitzt, kürte Putin zuletzt «ohne Freude» sogar zum «geopolitischen Sieger» des Jahres. Putin habe mit dem «grausamen Vorteil strategischer Ausdauer» und autokratischer Herrschaft seine Position gestärkt.
Von Ulf Mauder, dpa
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