Andrey Kozlov (M), eine der vier israelischen Geiseln, die am 7. Oktober von der Hamas auf dem Nova-Musikfestival entführt wurden, kommt mit einem Hubschrauber im Sheba Medical Center an.
Ilia Yefimovich/dpa
Andrey Kozlov (M), eine der vier israelischen Geiseln, die am 7. Oktober von der Hamas auf dem Nova-Musikfestival entführt wurden, kommt mit einem Hubschrauber im Sheba Medical Center an.
Krieg in Nahost

Viele Tote bei Befreiung von Geiseln aus Gazastreifen

Israelische Spezialkräfte befreien Geiseln aus dem Flüchtlingsviertel Nuseirat im Gazastreifen. Nach palästinensischen Angaben kommen bei den Armeeeinsätzen Dutzende Menschen ums Leben.

Israelische Spezialeinheiten haben im Zentrum des Gazastreifens nach Armeeangaben vier Geiseln gerettet. Die am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival Entführten seien am Samstag bei zwei Einsätzen im Flüchtlingsviertel Nuseirat befreit worden, teilte das Militär mit. Es handelt sich demnach um eine 25 Jahre alte Frau und drei Männer im Alter von 21, 27 und 40 Jahren. Die Palästinenser im Gazastreifen beklagten Dutzende Tote.

Mutmaßlich im Zusammenhang mit der israelischen Befreiungsaktion wurden nach Angaben einer Behörde der islamistischen Hamas 210 Palästinenser getötet. In Nuseirat im Zentrum des Küstengebiets seien zudem rund 400 Menschen verletzt worden. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde sowie medizinische Kreise im Gazastreifen hatten zuvor von 55 Toten gesprochen. Israels Armeesprecher Daniel Hagari wiederum sprach am Abend von weniger als 100 Todesopfern. «Ich weiß nicht, wie viele davon Terroristen sind», sagte er. 

Aufnahmen zeigen Chaos in Al-Aksa-Krankenhaus 

Das Medienbüro der Hamas sprach von «einem beispiellosen, brutalen Angriff auf das Flüchtlingslager Nuseirat». Das Al-Aksa-Krankenhaus befinde sich in einer katastrophalen Lage. Berichten zufolge gab es heftige Luftangriffe und Artilleriebeschuss in der Gegend. Auf Aufnahmen, die Szenen aus dem behandelnden Krankenhaus zeigen sollen, sind blutüberströmte Opfer, Tote und verletzte Kinder zu sehen. Berichten zufolge soll in der Al-Aksa-Klinik in Deir al-Balah völliges Chaos ausgebrochen sein.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen erklärte auf der Plattform X, nach den jüngsten «intensiven Bombardements» im Zentrum des Gazastreifens sähen sich die Helfer in den Krankenhäusern Al-Aksa und Nasser mit einer «überwältigenden Zahl schwerverletzter Patienten, darunter viele Frauen und Kinder» konfrontiert. 

Armeesprecher spricht von menschlichen Schutzschilden

Bei der Befreiungsaktion hätten Extremisten Zivilisten als Schutzschilde missbraucht, sagte Armeesprecher Hagari. In den beiden Wohngebäuden, aus denen die vier Geiseln befreit worden seien, hätten Familien und bewaffnete Wächter die Geiseln festgehalten. Die Einsatzkräfte seien heftigem Beschuss ausgesetzt gewesen, sagte der Sprecher weiter. Palästinenser seien mit Panzerfäusten auf die Straßen gelaufen, um die Soldaten anzugreifen. Die israelischen Einsatzkräfte feuerten Hagari zufolge aus der Nähe und aus der Luft zurück. Die Angaben des Militärs ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. 

Israelischen Polizeiangaben zufolge wurde bei dem Einsatz auch ein hochrangiger Beamter getötet. Der Einsatz zur Befreiung der Entführten wurde Armeeangaben zufolge ihm zu Ehren in «Operation Arnon» umbenannt. Arnon war der Vorname des Getöteten.

Nach Angaben Hagaris wurden die Befreiten medizinisch untersucht und im Krankenhaus mit ihren Familien wieder vereint. Medien zeigten bereits das glückliche Wiedersehen der 25 Jahre alten Frau mit ihren Angehörigen. 

Der Auslandschef der Hamas, Ismail Hanija, bezeichnete Israels jüngste Einsätze in Gaza als «Massaker» an den Palästinensern. «Der Feind setzt sein Massaker gegen unser Volk, unsere Kinder und Frauen, in Nuseirat und Deir al-Balah fort», teilte Hanija mit. Israel habe «militärisch, politisch und moralisch versagt». Es blieb unklar, ob er sich direkt auf die Nachricht über die Befreiung der Geiseln aus Gewalt der Hamas bezog. 

Netanjahu und Herzog telefonieren mit befreiter 25-Jähriger

Das Schicksal der nun befreiten Frau, die von Terroristen auf einem Motorrad entführt wurde und dabei verzweifelt weinend um Hilfe rief, bewegt Israel schon seit langem. Ihre Mutter leidet an Krebs im Endstadium. Die Frau hatte immer wieder darum gebeten, ihre Tochter vor ihrem Tod noch einmal sehen zu dürfen. Dieser Wunsch dürfte jetzt erfüllt werden. Medien zufolge fiel der Tag der Befreiung zudem auf den Geburtstag des Vaters. 

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu rief die 25-Jährige nach Angaben seines Büros am Samstag an. Sie freue sich, nach so langer Zeit wieder auf Hebräisch zu sprechen, sagte die Israelin Medien zufolge in dem Gespräch. Der ebenfalls entführte Freund der Studentin befindet sich nach Angaben des Forums der Geiselfamilien noch immer in Gewalt der Hamas.

Ein 27-Jähriger, der am Samstag befreit wurde, hatte am 7. Oktober Medien zufolge seiner Freundin geschrieben, er sei von Terroristen umzingelt, die Raketen auf ihn und andere Betroffene feuerten. 

«Wir sind überglücklich, euch zu Hause zu haben», sagte Israels Verteidigungsminister Joav Galant nach Angaben seines Büros. Er sprach von einer «heldenhaften Operation».

Israels Staatspräsident Izchak Herzog dankte den israelischen Einsatzkräften für die «beeindruckende und mutige Rettungsaktion». Er rief auch bei der befreiten jungen Frau an. Auf der Plattform X veröffentlichte er eine Aufnahme der strahlenden Frau während des kurzen Gesprächs. 

Benny Gantz, Minister in Israels Kriegskabinett, teilte nach der Rettung der Geiseln Medien zufolge mit, sein «Herz sei erfüllt». Zugleich sagte er eine ursprünglich für den Abend geplante Ansprache ab. Es war erwartet worden, dass er dabei aufgrund von Meinungsunterschieden mit dem Kurs von Regierungschef Benjamin Netanjahu im Gaza-Krieg den Austritt seiner Partei aus der Regierung bekanntgeben würde.

Scholz: Befreiung ist Zeichen der Hoffnung

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Befreiung als «wichtiges Zeichen der Hoffnung». Dies gelte «besonders für die vielen Familien in Israel, die nach wie vor um ihre Angehörigen bangen», schrieb Scholz am Samstag auf der Plattform X. «Vier Geiseln sind nun in Freiheit. Die Hamas muss endlich alle Geiseln freilassen. Der Krieg muss enden.» Auch US-Präsident Joe Biden und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron begrüßten die Befreiung der Geiseln. 

Bei dem beispiellosen Massaker am 7. Oktober ermordeten Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Palästinenserorganisationen in Israel nahe der Grenze zum Gazastreifen mehr als 1200 Menschen. Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. 

Dabei wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mindestens 36.801 Menschen getötet und weitere 83.680 verletzt. Diese Angaben, die nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, lassen sich derzeit nicht unabhängig verifizieren. Israels Armee steht wegen ihres Vorgehens im Gazastreifen und der hohen Zahl ziviler Opfer international stark in der Kritik.

Noch viele weitere Geiseln im Gazastreifen

Israels Armee befreite Ende Oktober vergangenen Jahres bereits eine Soldatin aus dem Gazastreifen, im Februar zwei Männer. Eine andere Geisel wurde laut Militärangaben im Dezember bei einem gescheiterten Befreiungsversuch getötet. Bei einem anderen Vorfall erschossen israelische Soldaten im Dezember versehentlich drei aus Israel entführte Männer.

Militärsprecher Hagari zufolge befinden sich noch 120 Geiseln der insgesamt mehr als 250 aus Israel verschleppten Menschen im Gazastreifen. Es wird befürchtet, dass ein Großteil von ihnen nicht mehr am Leben ist.

Von Cindy Riechau, dpa
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