Die Zerstörungen in der von ukrainischen Streitkräften angegriffenen Region Kursk sind massiv, weshalb nun der Ausnahmezustand gilt (Foto aktuell v. 7. August).
Uncredited/Acting Governor of Kursk region Alexei Smirnov telegram channel/AP/dpa
Die Zerstörungen in der von ukrainischen Streitkräften angegriffenen Region Kursk sind massiv, weshalb nun der Ausnahmezustand gilt (Foto aktuell v. 7. August).
Russisch-ukrainischer Krieg

Ukraine setzt Russland mit massiven Angriffen unter Druck

Nach massiven ukrainischen Gegenschläge herrscht in russischen Regionen teils Ausnahmezustand. Nicht nur im Gebiet Kursk ist die Lage gespannt.

Russland muss in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die bisher schwersten Gegenschläge Kiews auf eigenem Gebiet hinnehmen. Nicht nur in der Region Kursk herrscht Ausnahmezustand inmitten andauernder Kämpfe russischer und ukrainischer Soldaten. Es gibt viele Tote. Auch mit Drohnenangriffen setzt die Ukraine Russland zu: Behörden melden Explosionen, Zerstörungen und viele Verletzte. Die Ukraine, die zuletzt im eigenen Land in der Defensive war, will den Krieg nun verstärkt nach Russland tragen und so auch für mögliche Verhandlungen in eine bessere Position kommen. Zur Lage und den Aussichten Fragen und Antworten:

Was bezweckt die Ukraine mit ihren Angriffen auf Russland?

«Der Ukraine geht es um das Ergreifen der Initiative durch ein Überraschungsmoment und die Herrschaft im Informationsraum. Diese taktischen Ziele hat die Ukraine erreicht», sagte der Militärexperte Nico Lange der Deutschen Presse-Agentur. Ob weitere operative Ziele im Gebiet Kursk verwirklicht werden können, sei derzeit offen. «Die Ukraine hat auch erreicht, dass russische Einheiten sich in Richtung Kursk in Bewegung setzen mussten und dabei auf dem Marsch sehr verwundbar sind», sagte Lange, der für die Münchner Sicherheitskonferenz arbeitet und zuvor Chef des Leitungsstabs im deutschen Verteidigungsministerium war. Die Ukraine habe russischen Einheiten auf diesem Weg in Hinterhalten große Verluste zugefügt. 

Ziel könnte es sein, eine grenznahe Schutzzone zu schaffen, um den Beschuss eigenen Territoriums durch den russischen Gegner zu minimieren, wie der präsidentennahe ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko bei Facebook nahelegt. Militärisch könnte die Ukraine so auch russische Kräfte binden und andere Frontabschnitte entlasten wie bei Wowtschansk im Gebiet Charkiw oder an der unter Druck stehenden Front bei Donezk. 

Doch geht es Fessenko zufolge auch darum, den Bündnispartnern etwas zu beweisen: «Der ukrainische Vorstoß auf das Kursker Gebiet ist auch eine Demonstration für die Amerikaner, dass man Angriffe auf russisches Territorium nicht zu fürchten braucht.» Diese könnten somit auch eine Freigabe für den Einsatz ihrer Waffen auf russischem Boden erteilen.

Welche Erfolgsaussichten hat der Vorstoß in Kursk?

Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) schreiben, ukrainische Soldaten seien bis zu 35 Kilometer über die eigene Grenze hinaus vorgestoßen, ohne allerdings das ganze Gebiet unter Kontrolle zu haben. Nach Meinung anderer Militärexperten werden sich die ukrainischen Truppen aufgrund des begrenzten Kräfteeinsatzes von einigen Hundert Mann mit leichter Panzertechnik kaum dauerhaft auf einem größeren Gebiet festsetzen können. 

Auch diskutierte Vorstöße in Richtung des Atomkraftwerks Kursk bei Kurtschatow in knapp sechzig Kilometer Entfernung von der Grenze sind demnach bei einem ständig durch russische Luft- und Artillerieangriffe gefährdeten Nachschub unwahrscheinlich. Zudem braucht die ukrainische Armee kampffähige motivierte Soldaten, Panzertechnik und Artillerie dringend an anderen Frontabschnitten, wie viele vor allem ukrainische Beobachter kritisch anmerkten.

An den Erfolg der Operation, deren volles Ausmaß sich erst in den nächsten Tagen offenbaren dürfte, ist auch die weitere Karriere von Armeeoberbefehlshaber Olexander Syrskyj geknüpft, wie der Militärjournalist Mychajlo Schyrochow in Kiew meinte. Syrskyj hat das Kommando erst im Februar übernommen und geriet durch die ständigen Gebietsverluste in der Ostukraine zuletzt zunehmend in die Kritik.

Wie reagiert der Westen?

Im Mai hatten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und US-Präsident Joe Biden einen Kurswechsel in der Ukraine-Politik vollzogen und den Einsatz gelieferter Waffen gegen Ziele in Russland erlaubt. Eine Bewertung des nun erfolgten ukrainischen Vorstoßes gab es von der Bundesregierung aber bis zum Freitagnachmittag nicht. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber (FDP), sah im Falle eines Einsatzes deutscher Waffen kein Problem. «Mit der Übergabe an die Ukraine sind es ukrainische Waffen. Das gilt für jegliches Material – auch für die Leopard 2», sagte er der Funke Mediengruppe. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine sei das Territorium beider Staaten Kriegsgebiet, und der Einsatz der Waffen unterliege den Bestimmungen des Völkerrechts. Demnach hat die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf auch das Recht, das Gebiet des Aggressors anzugreifen.

Was bedeutet der Gegenschlag für die Unterstützung des Westens?

Dass der grenzüberschreitende Einsatz das Blatt wenden könnte, scheint ausgeschlossen. Und doch bindet er russische Kräfte und lenkt womöglich auch von anderen Schauplätzen ab. Für die Ukraine ist es ein Etappenerfolg mit noch ungewissem Ausgang, für die Führung in Moskau allemal eine Demütigung. Der Westen hat stets betont, die Ukraine in ihren Entscheidungen bei ihrem Verteidigungskampf gegen den Angriffskrieg zu unterstützen.

Wie reagiert Russland?

Die russische Flugabwehr ist angesichts der ukrainischen Drohnen- und Raketenangriffe inzwischen im Dauereinsatz, unter anderem auf der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Wegen der schweren Kämpfe im Gebiet Kursk verstärkt das Verteidigungsministerium dort seine Truppen nun massiv. Der Ausnahmezustand wurde zu einem Notstand nationalen Ausmaßes hochgestuft. 

Zugleich werden Luftangriffe gegen die benachbarte Region Sumy geflogen, die der Ukraine als Aufmarschgebiet für ihren Vorstoß dient. Neben dem Kampf gegen die Angriffe aus dem Nachbarland setzt Moskau auch seine Attacken in den annektierten Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk fort. Das Verteidigungsministerium in Moskau meldet dort weitere Kampferfolge. 

Was bedeutet der Vorstoß für Russlands Angriffskrieg?

Russland sieht sich so stark unter Handlungsdruck wie lange nicht mehr. Russlands Präsident Wladimir Putin hat den Krieg gegen die Ukraine auch mit dem Argument begonnen, für die Sicherheit und Stabilität seines Landes zu kämpfen, weil Moskau sich etwa durch einen geplanten Nato-Beitritt Kiews bedroht sehe.

Der Krieg trifft einmal mehr vor allem die Grenzregionen. Dort haben viele Menschen ihr Hab und Gut verloren, sind entsetzt und desillusioniert, wie sogar Behördenvertreter einräumen. Die Menschen müssen erneut zusehen, wie Putins Krieg auch ihr Leben bedroht und die Atommacht trotz der Beteuerungen des Kreml verwundbar ist.

Beobachter in Russland gehen davon aus, dass die neuen Probleme womöglich noch mehr Freiwillige für den Fronteinsatz mobilisieren. Schon zuletzt hatten die Regionen und auch Putin die Geldprämien für die Unterzeichnung von Verträgen für den Kriegseinsatz deutlich angehoben.

Was bedeutet die Lage für mögliche Friedensverhandlungen?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, dass das Land Verhandlungen für einen gerechten Frieden anstrebe. Sein Büroberater Mychajlo Podoljak meinte, dass Erfolge in Kursk die Verhandlungsposition stärken könnten. Moskau werde nur gesprächsbereiter, wenn der Preis des Krieges über «Verluste an Menschen, Kriegstechnik und Gebieten der Russischen Föderation» erhöht wird, sagte er im ukrainischen Fernsehen.

Aus russischer Sicht rücken die Verhandlungen in noch weitere Ferne. Das Land stellt sich auf einen sehr langen Konflikt ein. Der Vizechef des nationalen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, meinte, dass sich die Ukraine nun auf noch mehr Gebietsverluste einstellen müsse – er nannte die Regionen Charkiw, Dnipro, Odessa und auch Kiew. 

Von Andreas Stein, Carsten Hoffmann und Ulf Mauder, dpa
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