Steinmeier lobt Aufbauleistung der Türken in Deutschland
Ein Dönerbuden-Besitzer stiehlt im fast die Show, Demonstranten vergleichen ihn mit Hitler. Die dreitägige Türkei-Reise von Bundespräsident Steinmeier beginnt etwas stürmisch.
Ein Dönerbuden-Besitzer stiehlt im fast die Show, Demonstranten vergleichen ihn mit Hitler. Die dreitägige Türkei-Reise von Bundespräsident Steinmeier beginnt etwas stürmisch.
Sie haben in Essen unter Tage die Kohle aus der Tiefe geholt und in Köln am Fließband Autos zusammengeschraubt - Hunderttausende Türken trugen ab Anfang der sechziger Jahre zum deutschen Wirtschaftswunder bei.
Diese bei den Deutschen oft in Vergessenheit geratene Leistung würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Istanbul zum Auftakt seiner dreitägigen Reise in die Türkei: «Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft», sagte er mit Blick auf die fast drei Millionen türkischstämmige Menschen, die heute in Deutschland leben. «Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund - Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund.»
Propalästinensische Gruppen stören Rundgang
Steinmeier begann seinen Besuch im historischen Bahnhof Sirkeci, von dem aus viele Türken nach Deutschland starteten. Sein Rundgang durch den Bahnhof wurde von einer Gruppe propalästinensischer Demonstranten lautstark gestört. Die etwa 50 Männer und Frauen skandierten aus einer Entfernung von knapp 100 Metern Parolen und zeigten Schilder mit Porträts von Steinmeier, Hitler und Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Die Gesichter Steinmeiers und Netanjahus waren mit Hitlerbärtchen verunziert. Steinmeier konnte den Bahnhof trotz des Protestes problemlos besichtigen.
Der Bundespräsident wurde vom gerade wiedergewählten Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu gegrüßt. Der Widersacher von Präsident Recep Tayyip Erdogan wird als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt. Imamoglu bezeichnete die deutsch-türkischen Beziehungen im Vorfeld als etwas sehr Besonderes. Erdogan wird Steinmeier erst zum Abschluss seiner Reise in der Hauptstadt Ankara treffen.
Mit dieser Reihenfolge setzt Steinmeier - egal ob gezielt oder nicht gezielt - das Signal, dass Berlin auch schon auf die mögliche Nach-Erdogan-Zeit schaut. Dazu passt, dass auch ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, vorgesehen ist.
Deutsch-türkische Geschichte hat zwei Richtungen
Steinmeier erinnerte in seiner Rede daran, dass die deutsch-türkische Migrationsgeschichte zwei Richtungen hatte. Im 19. Jahrhundert hätten Armut und Arbeitslosigkeit Handwerker aus Deutschland nach Anatolien getrieben. Und in der Zeit des Nationalsozialismus sei die Türkei ein Zufluchtsort für viele deutsche Künstler und Intellektuelle geworden.
«Während Deutsche in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die neue Hauptstadt Ankara mitentwarfen und -bauten, waren es die Gastarbeiter aus der Türkei, die seit den 60er Jahren die Wirtschaft der jungen Bundesrepublik mit aufbauten und die in mittlerweile vier Generationen entscheidend zu unserem Wohlstand beitragen», sagte Steinmeier.
Die Regierungen in Bonn und Ankara hatten 1961 ein Anwerbeabkommen unterzeichnet. Auf seiner Basis kamen nach Angaben des Auswärtigen Amts etwa 876.000 Menschen aus der Türkei nach Deutschland. Viele der sogenannten Gastarbeiter holten ihre Familien nach und blieben für immer.
Begleitet von Gästen mit türkischen Wurzeln
Um ihre Geschichten nachzuzeichnen, hatte Steinmeier eine Reihe von Gästen mit türkischen Wurzeln eingeladen, ihn zu begleiten. Am meisten Aufsehen erregte dabei der Gastronom Arif Keles , der in Berlin in dritter Generation einen Dönerimbiss betreibt. Er nahm sogar einen 60 Kilo schweren und tiefgefrorenen Dönerspieß samt Soßen und anderen Zutaten im Flugzeug mit nach Istanbul, um ihn am Abend bei einem Empfang in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters zu servieren. Der Döner sei im kulinarischen Bereich ein Beispiel dafür, wie sehr Deutschland und die Türkei zusammengewachsen seien, sagte Steinmeier. «Ich esse auch gern einen.»
Steinmeiers flog nur wenige Wochen nach den Kommunalwahlen in der Türkei, deren Bedeutung über das Lokale hinausging. Die Wähler verpassten Erdogan Ende März einen Denkzettel. Seine islamisch-konservative AKP wurde erstmals in ihrer Geschichte nicht mehr stärkste Kraft im Land. Stattdessen triumphierte landesweit die größte Oppositionspartei CHP. Mit seiner Reise will Steinmeier auch ein Gespür dafür bekommen, wie es in der Türkei politisch weitergehen könnte.
Von Ulrich Steinkohl und Mirjam Schmitt, dpa
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