Großbritannien hat erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt wieder einen sozialdemokratischen Premierminister. Keir Starmer (61), dessen Labour-Partei die Parlamentswahl deutlich gewonnen hat, warb für einen Neustart. «Unsere Arbeit ist dringend und wir beginnen heute damit», sagte er bei seinem ersten Auftritt in der Londoner Downing Street. Er gestand aber auch ein, dass sich dies nicht kurzfristig erreichen lasse und zeigte Verständnis für Politikverdrossenheit im Land.
Ein Land zu verändern, sei nicht vergleichbar mit dem Umlegen eines Schalters. «Das wird etwas dauern», sagte Starmer, nachdem ihn König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Mit seiner Partei löst er nach 14 Jahren die Konservativen des bisherigen Regierungschefs Rishi Sunak ab, die vor einem Scherbenhaufen stehen.
Starmer ist der erste Premierminister von Labour seit Gordon Brown, der 2010 hinwarf. Seine Partei kommt nach Auszählung fast aller Wahlkreise auf mindestens 412 von 650 Sitzen im Unterhaus (House of Commons). Bei der Wahl 2019 hatte die Partei 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen von bisher 365 auf etwa 120 Sitze ein. Dabei wurden so viele Kabinettsmitglieder abgewählt wie nie.
Eine von Starmers ersten Entscheidungen ist historisch: Mit Rachel Reeves leitet erstmals in der britischen Geschichte eine Frau das Finanzministerium. Labour-Vize Angela Rayner ist neue Vizepremierministerin und als Ministerin verantwortlich für Wohnungsbau sowie «Levelling Up». Darunter wird die Angleichung der Lebensverhältnisse im ganzen Land verstanden. Das Außenministerium übernimmt David Lammy, Yvette Cooper wird Innenministerin und John Healey Verteidigungsminister.
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Den Wahlsieg verdankt Labour vor allem der schwindenden Unterstützung für die konservativen Tories. Die Sozialdemokraten erhielten nur 34 Prozent der Wählerstimmen. Dass es trotzdem zu einer satten Mehrheit an Sitzen im Unterhaus reicht, liegt vor allem am britischen Mehrheitswahlrecht, bei der in jedem Wahlkreis nur der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen ins Parlament einzieht.
Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation, zahlreichen Skandalen und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war. Er hatte im Oktober 2022 von Liz Truss übernommen, die nach nur 49 Tagen im Amt zurückgetreten war und nun auch ihren Sitz im Unterhaus verliert.
Britische Konservative stehen vor einem Scherbenhaufen
Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Alptraum. «Erdrutsch» und «Massaker» lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse. Sunak kündigte seinen Rücktritt als Parteichef an. Er wolle den Posten abgeben, sobald die formalen Regelungen für die Nachfolge geklärt seien, sagte er. «Dem Land möchte ich zuallererst sagen: Es tut mir leid.»
Bei den Konservativen stellt sich die Frage, wer die Partei und damit die Opposition im Londoner Parlament anführen soll. Als Kandidatin galt Penny Mordaunt, die auch bekannt dafür ist, bei Charles' Krönung ein Schwert getragen zu haben. Die bisherige Ministerin für Parlamentsfragen verpasste allerdings den Einzug ins Parlament.
Interesse nachgesagt wird auch der bisherigen Handelsministerin Kemi Badenoch und der früheren Innenministerin Suella Braverman, die beide noch weiter rechts stehen. Als moderatere potenzielle Kandidaten gelten der bisherige Innenminister James Cleverly und der bisherige Staatssekretär Tom Tugendhat. Auf die Frage, ob er sich bewerben wolle, antwortete Cleverly dem Sender Sky News eher ausweichend.
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Viele Briten haben genug von den Problemen
Auf den neuen Premier kommen etliche Herausforderungen zu - etwa die Überlastung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS, Probleme in der Wohnungspolitik oder die Frage, wie das Land mit Einwanderung umgehen will. Kippen dürfte Starmer den Plan der bisherigen Regierung, irreguläre Migranten ungeachtet ihrer Herkunft nach Ruanda abzuschieben. Eine Rückkehr seines Landes in die EU hat er ausgeschlossen.
Große Begeisterung löst der als langweilig geltende Politiker bei den Briten nicht aus. In vielen Politikbereichen blieb er vage. Die Parteiführung hatte Starmer von dem Alt-Linken Jeremy Corbyn übernommen, dem vorgeworfen wurde, nicht genug gegen Antisemitismus in seiner Partei zu tun. Starmer ging dagegen vor und führte die Partei zurück in die politische Mitte. Der Krieg im Gazastreifen führte allerdings in seiner Partei, die traditionell den Palästinensern nahesteht, immer wieder zu Spannungen.
Im Wahlkampf hatte Starmer seine bürgerliche Herkunft betont - sein Vater sei Werkzeugmacher und seine Mutter Krankenschwester gewesen. Weil seine Mutter schwer krank war, übernahm Starmer schon früh Verantwortung in der Familie, wie sein Biograf Tom Baldwin schreibt. Starmer ist Anhänger des Londoner Fußballvereins FC Arsenal und will auch selbst noch ab und an auf dem Fußballplatz stehen. Die Freitagabende will er sich weiterhin möglichst für Ehefrau Victoria und seine beiden Kinder im Teenageralter freihalten.
Von Benedikt von Imhoff, Christoph Meyer und Julia Kilian, dpa
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