Nach dem Zweiten Weltkrieg war Robert Mulka, Stellvertreter von Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höß, fast nahtlos zurück in ein bürgerliches Leben geschlüpft. Kurze Zeit saß er in Haft, dann galt der ehemalige SS-Hauptsturmführer als «entnazifiziert».
Bereits 1948 arbeitete er als selbstständiger Kaufmann in Hamburg und kam zu Wohlstand. «Er fürchtete ebenso wie die anderen Angeklagten im späteren Auschwitz-Prozess wohl keine Konsequenzen mehr», berichtet die Direktorin des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main, Sybille Steinbacher.
Doch über 18 Jahre nach dem Kriegsende 1945 holte ihn seine Vergangenheit ein. Am 20. Dezember 1963 - also am Mittwoch vor 60 Jahren - begann im Frankfurter Römer der erste Auschwitz-Prozess. Angeklagt waren Mulka und 22 weitere Männer.
Der bis dahin größte und längste Mordprozess
Dies sei der bis dahin größte und längste Mordprozess in der deutschen Rechtsgeschichte gewesen, erklärt Steinbacher. «Er gab den entscheidenden Anstoß für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.» Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermordeten die Nationalsozialisten mindestens 1,1 Millionen Menschen, meist jüdische Häftlinge. Sie starben in den Gaskammern oder an den Folgen von Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten und Misshandlungen.
Initiiert hatte die Prozesse der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer, später Namensgeber für das Forschungsinstitut. Die Ermittlungen zu dem Prozess dauerten fünf Jahre, die Anklage gegen 24 Männer umfasste exakt 700 Seiten. Bis dahin hatten alle Beschuldigten unauffällig in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft gelebt, wie sich aus dem Buch «Auschwitz vor Gericht» ergibt.
So arbeitete zum Beispiel Wilhelm Boger, der in Auschwitz Häftlinge zu Tode geprügelt hatte, bis zu seiner Festnahme als kaufmännischer Angestellter. Der Krankenpfleger Oswald Kaduk hatte in Auschwitz als einer der grausamsten SS-Männer gegolten. Der Apotheker Victor Capesius hatte bestimmt, wer von den neuen Häftlingen noch arbeitsfähig war und wer sofort in der Gaskammer sterben musste.
Steinmeier bezeichnete Bauer als eine «Schlüsselfigur»
«Die Vorgabe von Fritz Bauer war es gewesen, bei den Angeklagten einen Querschnitt durch das ganze Lager abzubilden», erinnert sich einer der damaligen Staatsanwälte im Prozess, Gerhard Wiese, heute 95 Jahre alt. Der mittlerweile viel geehrte Bauer war damals hessischer Generalstaatsanwalt. Ohne das Engagement des in der NS-Zeit verfolgten Juden hätte es den Auschwitz-Prozess in Frankfurt nicht gegeben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bezeichnete Bauer vor einigen Jahren als eine «Schlüsselfigur» der jungen Bundesrepublik. Mit dem Auschwitz-Prozess habe er eine «Wegmarke» gesetzt und damit die Rückkehr des Landes in die Weltgemeinschaft mit ermöglicht.
Über 200 Auschwitz-Überlebende sagten in dem historischen Prozess aus, in der deutschen Bevölkerung stießen die Verhandlungen auf großes Interesse. «Während der 183 Prozesstage kamen über 20.000 Besucher, es wurde in den Zeitungen groß berichtet», sagt Steinbacher. Dass sie in Auschwitz gewesen waren, konnte keiner der Angeklagten bestreiten. Doch eine Verantwortung oder gar Schuld stritten sie ab. Sie hätten nur Befehle befolgt, hieß es seitens der Anklagebank. Bauer sagte nach dem Prozess in einer Diskussionsrunde, es sei kein «menschliches Wort» der Angeklagten gefallen.
Ein Problem der Ankläger bei dem Prozess war das bis in die 2010er Jahre gültige Rechtsprinzip, dass dem Angeklagten eine konkrete Tat nachgewiesen werden muss. Für eine Verurteilung wenigstens wegen Beihilfe reichte es nicht, wenn er Teil der Tötungsmaschinerie gewesen war. Und so wurden zum Abschluss des Auschwitz-Prozesses im August 1965 sogar drei Freisprüche verkündet. Nur sechs der Angeklagten wurden wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, darunter Boger und Kaduk. Mulka und Capesius erhielten mehrjährige Haftstrafen wegen Beihilfe.
Von Sabine Maurer, dpa
© dpa-infocom, dpa:231219-99-346533/4
Copyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten