US-Sängerin Beth Ditto und Bassist Ted Kwo in Berlin auf der Bühne.
Britta Pedersen/dpa
US-Sängerin Beth Ditto und Bassist Ted Kwo in Berlin auf der Bühne.
Comeback

Gossip sind zurück: «Real Power» heizt mächtig ein

Disco. Pop. Punk. Rock. Soul. Electro. Gossip haben stilistisch kaum Berührungsängste. Nun kommen auch noch Motown und Funk dazu. Das Comeback-Album zeigt sich von mitreißender Kraft - auch live.

Im ausverkauften Berliner Lido muss sich Beth Ditto immer wieder Luft zufächern. Zum Konzert anlässlich der Veröffentlichung ihrer neuen Platte dreht die markante Frontfrau des US-Trios Gossip die Hitze in dem proppenvollen Saal mächtig nach oben. Mit ihrer Wahnsinnsstimme und den dreckigen Gitarrenriffs bringen die 43-Jährige und ihre Band die Menge zum Kochen.

Das Konzert gibt zugleich einen ordentlichen Vorgeschmack auf das neue Album «Real Power», das heute erscheint. Mehr als eine Dekade nach der bislang letzten Platte und einer zwischenzeitlichen Trennung hat das Trio aus Portland (US-Bundesstaat Oregon) nun den sechsten Longplayer am Start.

«Heute Abend werdet ihr von einem Engel berührt», sagt Ditto im Lido. Kurz danach setzt das heftige Soul-Brett «Act of God» ein, zugleich Album-Opener auf «Real Power». Darin geht es um Kontrollverlust, den Glauben an Gott und das Leben. Der Track, irgendwo zwischen derbem Punk und melodiösem Motown, lässt gleich mal alle Härchen am Körper nach oben schnellen.

Songs entstehen auf Hawaii mit prominenter Hilfe

Elf neue Songs sind auf «Real Power» zusammengestellt. Der vorzüglich vielseitige Sound der Platte entspringt im Großen und Ganzen dem Kopf des Gitarristen Nathan Howdeshell.

Und wer auf «Real Power» seine Finger genauso wieder mit im Spiel hat, ist Star-Produzent Rick Rubin. Der zeigte sich schon 2009 verantwortlich für Gossips Mainstream-Durchbruch «Music For Men» und den Mega-Hit «Heavy Cross», der sich damals fast zwei Jahre am Stück in den deutschen Charts hielt. In Rubins Studio auf Hawaii entstanden im Laufe der vergangenen fünf Jahre die neuen Songs. Durch ihn heben sich die Tracks wieder merklich voneinander ab - anders als zuletzt auf «A Joyful Noise».

«Real Power» verabschiedet sich auch vom Dance des Vorgängers und ist in weiten Teilen viel ruhiger angelegt - samt Balladen. Es lassen sich stilistisch gänzlich unterschiedliche Glanzstücke finden. Da wäre etwa das grandiose «Tell Me Something» mit einem Mix aus tiefergelegt-dröhnenden Industrial-Elementen, klassischem Piano, leichten Percussions und Dittos mächtiger Soul-Stimme. In «Don't Be Afraid» wiederum kommt die Dominanz der Sängerin zwischen 80er-Keyboard-Einsprengseln eindrucksvoll zum Vorschein.

In Berlin wird gerülpst und geschrien

Im Lido spielen Gossip natürlich auch ihre Klassiker: «Love Long Distance», «Men in Love», «Listen Up» und «Standing in the Way of Control» sind auf der Setlist. Ditto zeigt, was sie mit ihrer Stimme vollbringen kann, sie zieht alle Register. Die Energie von queerem Punkrock werde einfach nicht alt, sagt sie. Sie rülpst und macht Scherze über Flatulenzen, versucht sich an deutschsprachigen Witzen, vaped auf der Bühne und quält ihre Stimme bis zum Schrei.

An dem Abend ist kaum vorstellbar, wie Gossip Ende vergangenen Jahres noch im herausgeputzten Ambiente der «Helene-Fischer-Show» das Publikum zum Mitmach-Klatschen animierten. Die Band ist wahrlich ein undurchsichtiges Phänomen. Irgendwo zwischen queer-feministischem Underground und durchorchestriert-kommerziellem Mainstream hat sie sich seit Jahren eingenistet.

Nur mal «Tschüss» - und dann wieder «Hallo»

Seit ihrer Teenager-Zeit im US-Bundesstaat Arkansas kennen sich Ditto und Howdeshell. Vor 25 Jahren formiert sich die Band, zu der später Drummerin Hannah Blilie stößt. Die ersten Alben sind von Garage-Rock und Riot-Punk geprägt. Im Jahr 2006 beginnt mit der dritten Platte «Standing in the Way of Control» der Aufstieg auf der Karriereleiter. Vor allem in Europa spielen Gossip ihre wilden Konzerte bald in größeren Hallen. Ditto wird mit ihrer Coolness zur Ikone der LGBTQI-Community, also für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und queere sowie intersexuelle Menschen. Bis heute hat die Band nach Angaben ihres Labels weltweit mehr als zehn Millionen Platten verkauft.

2016 wird die Trennung publik. «Es gab keinen großen Krach. Am Ende haben wir einfach Tschüss gesagt, das Leben geht weiter», sagt die Sängerin damals. Kein Drama also.

Und jetzt einfach wieder «Hallo»? «Irgendwie schon», sagt Ditto in Berlin. «Es gab kein Zögern, besonders nicht zwischen mir und Nathan.» In guten Beziehungen werde verstanden, dass der oder die andere Freiheiten brauche, und dass man nicht mehr dieselbe Person sei wie 13 Jahre zuvor. «In Gossip steckt eine Schlichtheit, die ich einfach liebe», sagt sie. «Es wird nicht viel über unsere Ziele gesprochen oder darüber, was wir wollen oder was wir nicht wollen. Es passiert einfach.»

Von Sebastian Fischer, dpa
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